Ohne das 17. Jahrhundert hätte dieses Jahrhundert sicher anders begonnen. Im Guten wie im Schlechten.
Das 17. Jahrhundert wird gerne frühe Neuzeit genannt und aus diesem Grund ist es im Zusammenhang der Frage nach der Bereitschaft zur Veränderung (und damit zur Innovation) in unserer heutigen Gegenwart besonders interessant.
Dieses Jahrhundert war eingebettet zwischen die Extreme des ausgehenden Mittelalters und den ersten Anzeichen einer mechanistischen, vor allem einer von der Wissenschaft dominierten Kultur in Europa.
René Decartes, als einer der heute vielleicht bekanntesten Vertreter des damaligen Aufbruchs, war auch ein typischer Vertreter damaligen Denkens. Seine Weltsicht, wie auch die vieler anderer Denker (und Denkerinnen) dieser Zeit war in der Konsequenz sicher auch eingebettet in die Herausforderung der Zeit in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Vieles davon war immer noch geprägt von einem Anspruch an Absolutheit und erlaubte nur eingeschränkt eine davon unabhängige Sicht. Wir wollen uns hier auf die Position des damaligen Europas beschränken und nur wichtige Aspekte hervorheben.
In dieser Zeit waren Umbrüche und gesellschaftliche Nöte sicher der Alltag jener Menschen, deren Lebenserwartung kaum höher als bei 30 Jahren lag. Das lag zum einen an einer sehr hohen Kindersterblichkeit, die bedingt durch die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln im Zusammenhang mit den Auswirkungen massiver Ernteausfälle der damaligen, so genannten Kleinen Eiszeit zu finden war. Zum anderen war die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent vom Dreißigjährigen Krieg geprägt (1618 – 1648).
Ohne einen empirischen Beweis dafür anbieten zu können, ist die Spekulation sicher nachvollziehbar, dass diese existenzielle Krise in dieser Zeit und die damit verbundenen Entbehrungen und Nöte der Menschen sich in der sozialen DNA bis in unsere heutige Gegenwart bemerkbar macht.
Damals war die Welt im Um- und Aufbruch gleichzeitig. Die dreißig Jahre Kriegsgeschehen waren zum Beginn ein, an verschiedenen Stellen aufbrechender Religionskrieg und entwickelte sich über die Zeit zu einem typisch für das schon viele Jahrhunderte sehr disperse und wechselhafte Geschehen, vornehmlich territorialen Krieg.
Die 95 Thesen Martin Luthers waren ein äusserer Startpunkt der grundlegenden Veränderungen, welche die Dominanz der katholischen Kirche in der Folge und bis in unsere Zeit infrage stellen sollte. Ob Luther tatsächlich seine Thesen am 31. Oktober 1517 selbst an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt hat, spielt keine grosse Rolle. Was eine Rolle spielt, ist auf der einen Seite die Bedeutung aufeinander folgender gesellschaftlicher Prozesse und ihre Wirkmächtigkeit, welche diese entfalten können, wenn der richtige Augenblick gekommen ist. Und auf der anderen Seite die Bedeutung der Symbolik, welche durch eine Aktion an einem bestimmten Ort ebenfalls zu massiven Veränderungen führen kann.
Dazu gehört auch, dass der Beginn des Dreißigjährigen Krieges mit dem Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 in direkte Verbindung gebracht wird. Die genauen Umstände und die Betroffenen können hier aussen vor gelassen werden. Auch wenn alle drei Betroffenen, die damals aus 17 Meter Höhe aus dem Fenster geworfen wurden, überlebt haben, war die Symbolik dramatisch und erklärter Kriegsgrund. Das sogenannte Defenestrieren war einer aggressivere Form eines geworfenen Fehdehandschuhs und zielte auf den Stolz und die Würde der anderen Seite.
Diese sehr archaische Seite menschlicher Existenz, eben der verletzte Stolz und die damit verbundene Freiheit der Gestaltung eigener Lebensrealitäten, soll hier nur angedeutet werden und wird in anderen Texten weiter behandelt.
Wichtig und schon erwähnt aber ist der aufbrechende Widerstand der damaligen protestantischen Bewegung, welche mit diesem aggressiven Akt des versuchten Mordes (Fenstersturz) während des Böhmischen Ständeaufstandes den damaligen katholischen Landesherrn und ihre Vertreter herausforderten.
Wie schon gesagt, die Symbolik [2] war ggfs. der prominente Teil der Wirkung und mit Blick auf unsere heutige Kultur war damit auch ein gravierender Teil wirksamer Kommunikation in Form der Propaganda zum Ausdruck gebracht. Jede Form der Aufmerksamkeit benötigt die grundsätzliche Störung der gewohnten Ordnung und gestaltet ihren Erfolg im Umkehrschluss durch die wohldosierte Orchestrierung zur gewohnten Norm. Einfach darum, da Veränderung bzw. der Prozess jeder Veränderung immer auch in die Zeit und damit auch im Umfeld der Lesbarkeit bleiben muss. Sonst würde sie schlichtweg nicht wahrgenommen.
Das war auch im 17. Jahrhundert nicht anders und vielleicht nur in der Dynamik der Möglichkeiten von unserer heutigen Mediensysteme zu unterscheiden.
Das Leben damals war nun gekennzeichnet von Kriegen und Seuchen sowie eben jenen gesellschaftlich beginnenden Umbrüchen, die 1789 – 1799 in der Französischen Revolution ihren Höhepunkt fand und als Wendepunkt zum heutigen Verständnis eines Parlamentarismus und wachsender Demokratie in Europa wurde.
Doch am Anfang des 17. Jahrhunderts war der soziale Bezugsraum der Menschen noch relativ und ohne starken Widerstand klar geregelt. Die Konfessionalisierung wurde, wenn auch getrieben durch die Möglichkeiten des Buchdrucks und der damit verbundenen Verbreitung gesetzgebender Positionen der Obrigkeiten, weiter vorangetrieben. Doch es gab nur wenige, welche in der Lage waren, derart komplexe Inhalte zu lesen oder die auch nur Zugang zu dieser neuen Form der Information überhaupt hatten.
Die Position der Kirche als Maß gebende Institution war eingebettet in die Nöte der Zeit, weitgehend unangefochten. Konfessionell anders denkende verliessen das europäische Festland oder wurden vor allem im Zusammenhang der grassierenden Hexenverfolgung, die oft nicht eine Gesinnung, sondern vielmehr die naturkundlichen, heidnischen Rituale einfacher gesellschaftlicher Gruppen und den dort aktiven Frauen auszurotten versuchten.
Gerade die Hexenverfolgung war ein gewisser Ausdruck der äusseren Präsentation von Macht und den damit verbundenen Prinzipien. Diese Prinzipien waren gesellschaftlich klar in die unterschiedliche Stände gegliedert.
Das Ständesystem teilte die Menschen in Adel, Bürger und Bauern. Hinzu kam in katholischen Ländern der Klerus. Nicht nur innerhalb des führenden Adelsstandes, dem unter 10 Prozent der Bevölkerung angehörten, sondern auch innerhalb der anderen Stände gab es große Differenzierungen, sodass die Angehörigen niederrangiger Stände oft reicher sein konnten als einige Vertreter höherer Stände. Insgesamt wurde das Ständesystem als gottgegeben akzeptiert.
In dieser Zeit und sicher auch im Spannungsfeld der damaligen Bewegungen in unterschiedliche Denkrichtungen hat René Descartes [2], 1596 – 1650, sein Weltbild formuliert. Auch seine Sicht akzeptierte das Unumstössliche, eine Form der Ausschliesslichkeit, dass es anders sein könnte als von Gott gegeben. Fritz B. Simon beschreibt diese, als da sie eingeboren sind, brauchen und können sie nicht hinterfragt werden.
Im Rückblick verlieren solche Feststellungen oft jene Bedeutung, die für die jeweilige Zeit eine geradezu kollektiv intrinsische Mächtigkeit entfaltete. Das eingeboren sein und damit die Ausschliesslichkeit jeder Hinterfragung war eine Art sozialer Barometer, der diesem 17. Jahrhundert seine besondere Bedeutung gab.
Wie schon erwähnt, war, wenn auch der Dreißigjährige Krieg einen prominenten Platz in der Geschichtsschreibung erhielt, von zahlreichen territorialen Kriegen geprägt. Neben der äusseren Bedeutung religiöser Fragen war es nicht zuletzt auch ein von ökonomischen Interessen geprägter multikomplexer Vorgang, der wie immer in der Ökonomie auch seinen Selbstzweck hatte.
Mit den Kriegen konnten nicht nur symbolische, territoriale und machtpolitische Ergebnisse erzielt werden. Es waren auch konkrete und direkt messbare wirtschaftliche Gründe, die ein weiterer zentraler Grund für die umwälzenden und zeitintensiven Vorgänge waren. Die Kriege, vorneweg der Dreißigjährige Krieg hatte gemeinsam mit Seuchen und Hungersnöten ganze Landstriche verwüstet und entvölkert. Teilweise, wie in Süddeutschland, hat nur ein Drittel der damaligen Bevölkerung überlebt.
In der Soziologie wird sicher aus guten Gründen darüber spekuliert, wie dieses tiefwurzelnde Trauma in der mitteleuropäischen, vor allem der deutschsprachigen Kultur einen Impuls der kollektiv-kommunikativen Weitergabe dieser Erfahrung auslöste und bis heute das soziale Psychogramm mit prägt.
Dieser kurze Einblick in die Zeit des 17. Jahrhunderts hat exakt diesen hier genannten Grund. Die Wirkmächtigkeit vergangener Ereignisse werden oft in ihrer Bedeutung für die jeweilige gegenwärtige Kultur und damit die agierende Gemeinschaft, in welcher Dimension auch immer klar unterschätzt.
Niemand wird sich komplett von der Bedeutung seiner eigenen familiären Herkunft und dessen psychosozial prägenden Einfluss distanzieren. Aber wie weit schauen wir zurück?
Auch wenn die soziale Kartografie [2] [3] mit heutigen Medien durchaus einen relativ weiten Rückblick (Bilder, Texte, Filme) erlaubt, so wird die Perspektive auf unsere eigene Vergangenheit spätestens ab der Generation unserer Ur-Grosseltern deutlich diffuser und damit trüber. Unser zeittypischer Selbstbezug und unser Interesse an der planbaren Zukunft reduziert darüber hinaus unsere Bereitschaft, dieser Form von Rückblick einen besonderen Platz in der Genealogie unseres Lebens zu geben.
Aber ist es nicht vielleicht tatsächlich so, dass unsere Erinnerung in viel tieferen Schichten unserer Existenz und damit auch zeitlich deutlich älteren Ursprung haben kann, als wir in unserer vom Individualismus geprägten Zeit vorstellen mögen.
So wie 40 Prozent aller Lebewesen auf diesem Planeten Parasiten sind und einen Wirt benötigen, um ihre Existenz weitertragen zu können, so wie Bakterien auch nach hunderttausenden Jahren noch am Leben sein können, so wie die Gestaltung unserer Erde ein in sich zusammenhängender Prozess ist, der ohne Unterbrechung einer permanenten Veränderung unterliegt, so sind möglicherweise die tief in unserer Geschichte verborgenen Erfahrungen elementarer für unsere Aktivitäten, als wir glauben mögen. Sowohl im kleinen, alltäglichen als auch in komplexen globalen Zusammenhängen.
Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.
© Carl Frech, 2020
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