NEONARZISSMUS_1 [reflexiv]

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Wir bezeichnen es als Narzissmus, wenn sich eine Person vordergründig extrem selbstbezogen verhält. Hinter den sozialen Fassaden wird es komplizierter.

Ein Spiegel ist eine Fläche, die alles zeigt, was von diesem Spiegel erfasst werden kann. Das erfasste und reflektierte Bild wird exakt in dem Winkel sichtbar, wie es auf die Oberfläche trifft. Damit dieser [physikalische] Effekt [2] wahrgenommen werden kann, braucht es Licht.

Menschen sehen die Welt so, wie sie ist. Technisch betrachtet. Diese Welt wird entweder beleuchtet und reflektiert das Licht abhängig von der objektiven Oberfläche, oder ein Objekt leuchtet von selbst.
Die elektromagnetischen Wellen wirken dabei indirekt oder direkt, jedoch immer in alle Richtungen, die von dem Licht erreichbar sind.

Jede Oberfläche muss dabei die Eigenschaft zur Reflexion [2] haben, was im Prinzip auf alle physikalischen Oberflächen zutrifft. Das Licht, das auf ein Objekt fällt, wird – wenn auch nur sehr diffus – dadurch sichtbar.
Und wie gesagt, indirekt oder direkt.

Wir machen uns im Kontinuum der Zeit ein Bild von dem Gesehenen an einem bestimmten Zeitpunkt sowie einer bestimmten Position und generieren dabei mögliche Erinnerungen. Je nachdem Freiwillige oder Unfreiwillige, da wir das Gesehene nicht vergessen können.
Mit diesen Erinnerungen generieren wir eine unbestimmte Projektion in eine andere Zeit und an einen anderen Ort.
Mehr oder weniger bewusst.

Ein Spiegel – ich hoffe, alle verstehen dies als Metapher – reflektiert Licht wie jedes Objekt auf diesem Planeten. Aber nur ein Spiegel spiegelt das Licht exakt so, wie es auf die Oberfläche trifft.
Und nur, wenn wir von einer perfekten Oberfläche ausgehen. Allerdings: Die Spiegelung kann nicht mehr als die Wirklichkeit, also nicht mehr als die Reflexionsfähigkeit der Oberfläche.

Menschen betrachten die Welt. Sie sehen unterschiedlich dynamische Bilder und verformen diese durch ihre individuelle Wahrnehmung im Augenblick des Sehens, abhängig von der Perspektive, den jeweiligen Ablenkungen, persönlichen Zielen und Vorlieben sowie vor dem Hintergrund dessen, was sie kennen oder auch [noch] nicht kennen. Und vielem mehr.

Alles Gesehene transmittiert [2] nach jedem Augenblick zur Vergangenheit und bildet [idealerweise] Konsens zwischen der Person, die betrachtet, und der Welt, die betrachtet wird. Und damit auch allen anderen, die in diesem Ausschnitt der Welt das Gleiche sehen und damit wahrnehmen. Aber eben nicht dasselbe. Das lassen wir mal so stehen.

Da die Welt in ihrer Gesamtheit überwiegend aus amorphen Oberflächen besteht, mutiert das Gesehene zwangsläufig zur Interpretation. Einfach darum, da sich die Bedingungen der Reflexion immer ändern können. Damit konstruieren wir eine möglichst sichere und verständliche Perspektive auf alles, was uns umgibt und relevant erscheint.

Ein Spiegel definiert durch seine Grösse und Form sowie sein Format den Ausschnitt dessen, was wir sehen können, exakt. Er kann aber nur dieses Bild und relativ zur eigenen Fläche zeigen. Abhängig vom Winkel und der Sichtebene wird auch die Person, die in den Spiegel blickt, für sich selbst sichtbar.
Oder eben nicht. Ein banaler Gedanke, doch nicht unwichtig für das Folgende.

Die Eindeutigkeit dessen, was Spiegel zeigen, wird in der Regel nicht hinterfragt. Man könnte jedoch fragen, warum ein Spiegel rechts und links vertauscht, aber nicht oben und unten.
Diese Frage ist leicht zu beantworten: Das macht ein Spiegel gar nicht. Die Reflexion vertauscht das vorne und hinten, was wir dann mit rechts und links interpretieren und damit unsere Wahrnehmung konstruieren. Es ist daher eher eine Frage, was unser Gehirn mit dem reflektierten Bild macht.

Die Türe zu diesem umfänglichen Thema der Neurophysiologie lassen wir besser geschlossen. Wichtiger ist die Frage, seit wann Menschen Spiegel als alltäglichen Gegenstand nutzen. Wir könnten hier geschichtlich weit zurückgehen. Schon im Mesopotamien gab es archäologische Funde, die Spiegel ca. 8.000 Jahre vor unserer Zeit beweisen.

Wichtiger ist mir die Kulturgeschichte, welche den Spiegel als Objekt des Alltags erst seit dem 17., [2] dem 18. und dann als Massenprodukt ab dem 19. Jahrhundert kennt.

Stellen wir uns vor: In den Zeiten davor wurden Menschen geboren, die kein wirkliches, zumindest kein permanentes Bewusstsein darüber hatten, wie sie aussahen, wie sie in ihrer Welt erschienen und damit auch, welche Wirkung sie auf Menschen in ihrem Umfeld hatten.
Menschen, die sich als Fremde trafen, waren sich vermutlich ihres Standes bewusst, ihrer Herkunft, ihres Geschlechtes oder Alters. Weniger sicher hatten sie eine präzise Einordnung der Anmutung ihrer Präsenz als eine Person im Zusammenspiel permanenter Reflexion.

Frei nach dem bekannten Leitsatz von Paul Watzlawick, 19212007: Man kann nicht nicht kommunizieren, könnte man hier sagen: Man kann sich nicht nicht präsentieren.

Die Kenntnis zu dem, was wir heute Identität [2] [3] [4] nennen würden (eher ein Begriff jüngerer Zeitrechnung), gründete auf dem direkten sozialen Umfeld [2] [3], in das eine Person hineingeboren wurde. Nur in diesem Umfeld war ein Vergleich möglich.
In Relation unserer gegenwärtigen Sicht auf die Welt und der Frage nach dem Begriff der Identität passt ein Zitat des englischen Philosophen John Locke, 1632 – 1704 recht gut:

Wir betrachten ein Ding als zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort existierend und vergleichen es dann mit sich selbst, wie es zu anderer Zeit existiert; danach bilden wir die Ideen der Identität und Verschiedenheit.

John Locke

In dieser spiegellosen Zeit war die soziale Reflexion wohl bestimmend für die eigene Wahrnehmung, das eigene bewusste Sein.
Jede Handlung, jede körperliche Aktivität, damit auch jeder soziale Akt, wie auch alle Tätigkeiten und damit vollbrachten Leistungen – und sei es auch jene abhängige in Diensten einer Person, die hierarchisch übergeordnet war – erforderte orientierende Aufmerksamkeit.

Der soziale Raum gab Ordnung, Struktur und definierte bedeutende Aspekte dessen, was Menschen in diesen früheren Zeiten von ihrem Leben erwarten durften. Oder auch nicht, da das Leben in weiten Teilen determiniert [2] zu sein schien.

Dies unterscheidet sich vermutlich nur geringfügig von jenen Prägungsinstanzen, die wir auch heute kennen (wenn wir den Begriff Instanz als eine weitgehend übergeordnete, vor allem eine entscheidende Stelle in Relation zum Gestaltungsraum unseres Lebens verstehen).

Die konkrete Wirkung der eigenen Person, also alles, was wir als sichtbares und damit präsentes Subjekt heute vor anderen offenbaren, das war für die Betrachteten in Zeiten, bevor Spiegel normal waren, wohl doch ein schwer zu durchdringendes Geheimnis.
In dem Sinn, dass Menschen kein gesichertes Bewusstsein ihrer äusseren Wirkung auf die Welt da draussen haben konnten, der visuellen Fassade ihrer Persönlichkeit (per sonare – ich töne durch eine, meine Maske).

Man könnte hier über eine Form sozialer Osmose sprechen, wenn wir den Begriff der Osmose [2] in Ableitung aus der Natur als einen Prozess verstehen, der einfach passiert und keine [bewusste] Energie benötigt.

Man könnte es auch als Druck- bzw. Konzentrationsausgleich zwischen Menschen bezeichnen.
Menschen, die sich begegnen, die nicht anders können, als die gegenseitige Wirkung zuzulassen und den Moment der Wahrnehmung durch andere akzeptieren müssen. Vielleicht mit der Chance, einen eigenen Vorteil erzielen zu können, welcher Art auch immer.

Mir ist klar, das klingt abstrakt. Aber im Prinzip geht es genau um diese Nichtmöglichkeit zur Konfrontation, um das Nicht-entrinnen-können aus einem situativen Kontakt. Etwas, was heute mit digitaler Leichtigkeit möglich zu sein scheint.
Wobei dies eher ein Trugbild [2] [3] ist, da wir zwar mittelbar (indirekt) einen Kontakt vermeiden können, doch unmittelbar (direkt) die Konfrontation irgendwie Teil unserer Realität bleibt [2].
Warum ist das so?

Mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert begann die massenhafte Externalisierung [2] aller relevanten Inhalte, definiert durch den dominanten Teil der Menschheit. Das, was wir gerne auch Wissen nennen. Vielleicht sollten wir es korrekter selektives Wissen bezeichnen.

Die von Menschen geprägte und geformte Welt spiegelte sich in dem kollektiven Medium Buch wider und war fortan darin mehr oder weniger festgeschrieben:
Wissen war dadurch final mit einem externen Medium verbunden. Das Festschreiben wurde zu einem Testat und damit der flüchtigen Sprache übergeordnet.

Man könnte [spekulativ] behaupten, wie über diese relativ neue Statik [2] im Umgang mit Wissen und ihren Inhalte der Inhalt selbst zu einer abstrakten, der Anwendung von Wissen übergeordneten Kategorie [2] [3] [4] wurde.
Wissen wurde zu einem Selbstzweck, sich gleichsam selbst genügend und damit losgelöst von dem Zweck, der erreichbar wäre, dem Nutzen, der entstehen könnte. Oder auch nicht.

Ohne die Erfindung des Buchdrucks und aller darauf aufbauenden Medien als obligatorischer Standard unserer heutigen Gegenwart würde der Begriff Wissensgesellschaft kaum oder nur wenig Sinn machen.

Die komplette Hinwendung an eine zunehmend inkrementelle bzw. syntaktische Produktivität aller Lebensbereiche während der vergangenen Jahrhunderte hat die Abstraktion und damit die Entkoppelung von Wissen nahezu absolut betrieben. Damit meine ich die Anwendung von Wissen zum Können sowie die Anwendung von Können zum Wollen.

Dieser Gedanke scheint lapidar, ist aber wichtig, denn in der Geschichte der Menschheit war dieser Prozess in der Regel genau umgedreht. Es gab ein Motiv, etwas zu tun und damit die Motivation für eine Aktivität [2].

Aus dem damit verbundenen Wollen wurde ein erstes Können durch Übung und Erfahrung. Dieses Können verdichtete sich zu einem generellen Verständnis über den gesamten Prozess und die Kompetenz [2], welche daraus entstand.
Aus dieser Kompetenz konnte man schliesslich das relevante Wissen abstrahieren, ausserhalb der eigenen Person festschreiben und damit auch für andere nutzbar machen.

Mit anderen Worten: Die Festschreibung von Wissen in ein anderes Medium führte über die Zeit der Jahrhunderte zu einem kollektiven Effekt der Assimilation [2] [3].

Es wurde nicht nur normal, dass Wissen ohne angewandten Zweck einen eigenen Wert hatte, der Zweck zweitrangig wurde oder wenigstens nicht das Ziel des Wissens war.
Reziprok ausgedrückt: Es wurde normal, die eigene Existenz als Sequenz in einem grösseren Prozess, eher einem funktionalen Kontext wahrzunehmen und in der Folge Teile dieser Existenz innerhalb sich dynamisch entwickelnder Medien auszulagern (externalisieren).

Ein zentraler Leitsatz einiger meiner Texte passt auch hier:

Und auch hier passt ein Zitat von Harold Innis, 1894 – 1952, einem der unbekanntesten, jedoch konturschärfsten Denker der Kommunikationswissenschaft, nach dem Veränderungen der Medien immer folgende drei Effekte haben:

01 Sie verändert die Struktur der Interessen. 
(Die Dinge, über die nachgedacht wird)

02 Den Charakter der Symbole. 
(Die Dinge, mit denen gedacht wird)

03 Das Wesen der Gemeinschaft.
(Die Sphäre, in der sich Gedanken entwickeln)

Harold Innis

Folgt man gedanklich dem Zitat von Harold Innis, geschrieben in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und transformiert es in das Normativ unserer Gegenwart, dann könnte man fast den Eindruck gewinnen: Unsere Fähigkeit zur unabhängigen Reflexion hat sich von der von uns kontrollierbaren Wahrnehmung entkoppelt und mutiert zunehmend in ein mediales Flirren ausserhalb dessen, was wir als definierte Person in Wirklichkeit sind.

Martin Luther, 1483 – 1546, benutzte den Begriff der Definition erstmals in seiner Schrift über den Menschen (Disputatio de homine) im Jahr 1536. Knapp 100 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks.
Johann Gottfried Kiesewetter, 17661819, ein deutscher Philosoph und Meisterschüler Immanuel Kants, 17241804, hob als zentrales Merkmal des Begriffs Definition die Notwendigkeit der territorialen Begrenzung hervor.

Erst durch die Abgrenzung kann ein Individuum eine eigene Identität, die Luther als ein vernunftbegabtes, mit Sinnen und Körperlichkeit ausgestattetes Lebewesen beschrieb, wahrnehmen und als real empfinden.

Mit einem Blick auf unsere medial durchtränkte Gegenwart als Ort individueller Realität kann man vermutlich zügig Zweifel entwickeln, ob und wie diese Position heute noch Bestand hätte.
In einem [zugegeben etwas extremen] Leitsatz formuliert:

Unsere Fähigkeit zur Reflexion hat sich von unserer Wahrnehmung schon so weit entkoppelt und in ein mediales Flirren ausserhalb unserer Existenz eingelagert, dass wir ohne diese externalisierte Aura kaum noch Kontakt zu unserer eigenen Existenz erleben.

Mir ist klar, diese Abstraktion ist eine relativ grobe Perspektive auf eine sehr viel komplexere und detailliertere Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse in unserem kulturellen Raum.

Weiter ist dieser kleine Exkurs zur Bedeutung von Medien wie auch dem Spiegel als Metapher zum Thema vermutlich nur am Rande wichtig.
Doch für die weiteren Gedanken zum Thema fehlte ohne diesen Hintergrund ein wenig die Bodenhaftung.

Für alle die gerne den zweiten Teil lesen wollen: NEONARZISSMUS_2 [hybris]


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2024

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