NEONARZISSMUS_2 [hybris]

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Diese beiden einleitenden Sätze sind natürlich eine Provokation. Und möglicherweise nicht sehr einladend für die folgenden Gedanken.
Wer will das schon sein. Kontaktlos, isoliert, ein unspezifisches Mischlingswesen?

Narzissen, in unserem Kulturraum auch Osterglocken genannt, sind Blumen mit meistens gelben Blüten. Der Begriff Narzisse leitet sich aus dem griechischen Wort narkein ab, was betäuben bedeutet. Eine Narkose ist ein äusserer Eingriff auf den menschlichen Körper, mit dem Ziel, sowohl die körperlichen Funktionen, vor allem jedoch das Bewusstsein soweit auszuschalten, damit äussere Eingriffe durchgeführt werden können.

Wer betäubt ist, dessen Wahrnehmung ist mindestens verändert, zumindest wenn wir vom Zustand des Wachbewusstseins ausgehen. Eine Betäubung, freiwillig oder nicht, bedeutet, dass wir weniger, vielleicht nichts mehr spüren. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf uns selbst. Wir entkoppeln uns von der Welt um uns herum und koppeln uns mit uns selbst.

In einem gesunden Verhältnis mit der Welt vergleichen wir diese Kopplungen mit derselben. Damit meine ich den Vergleich der Summe unserer Wahrnehmungen, Deutungen und Zuordnungen mit unserer Umwelt, also den Menschen, welchen wir begegnen. Wir kommunizieren innerhalb der uns gegebenen Möglichkeiten, verhandeln unsere Sichten und Überzeugungen und finden [idealerweise] einen Konsens.

Ohne diesen Prozess oder wenn dieser gestört ist, verharren wir in einer Kapsel starrer Positionen und [über-] leben durch eine Art der Selbstfütterung. Wir ertränken die unterschiedlichen Perspektiven der äusseren Welt in unserem inneren Gewässer, dessen Tiefe alles für uns Fremde, was nicht zum Raster unseres Standpunktes passt, unter dem Etikett einer Bedrohung verschluckt.

Eine Form der sinnlichen und irrationalen Implosion. Der scheinbare Druck von aussen führt dazu, wie alle Kräfte nach innen abgeleitet werden und dort in der [irrationalen] Endlosigkeit, gleichsam eines Befüllens ohne Grund, ein neues Gleichgewicht sucht. Dazu später mehr.

Sprechen wir noch einmal über die Farbe der Narzissen, die auch Osterglocken heissen.

Nach der Farbenlehre Goethes ist Gelb [2] die nächste Farbe am Licht. Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832, spricht über Gelb als den Sieg des Hellen. Derartige Vergleiche wirken in unserer nach Evidenz [2] [3] strebenden Gegenwart wenig belastbar. Sie wirken eher beliebig und rein subjektiv. Wie ein romantischer Gedanke aus einer fernen Zeit.
Wichtig ist hier nur: In nahezu allen Kulturen hat die Farbe Gelb eine überwiegend positive Konnotation.
Ein Zustand, der als erstrebenswert gilt.

An Ostern ist nach christlicher Lehre die Figur Jesus Christus [2] auferstanden und wurde damit zum Symbol ewigen Lebens. Ein Zustand, der jedoch nur durch den cleveren Übertragungsmythos der katholischen Kirche in Form von Zwang zum Glauben [2] erreicht werden konnte.

Ovid, 43 v. Chr. – 17 n. Chr., hat in seinen Metamorphosen [2] [3] die Figur des Narziss geschaffen, einen Jüngling, welcher die Liebe der ihn umgebenden Welt zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, sich in Sehnsucht nach sich selbst und der Erkenntnis von Unerreichbarkeit gleichsam auflöste und in Form einer Blume, der Narzisse weiterlebte, er in diese verwandelt wurde.

Eine Metamorphose [2] [3] ist eine Verwandlung. Wenn sich etwas verwandelt, dann wird ein neuer Zustand erreicht: Man könnte auch von Transformation sprechen. In der Biologie bedeutet dies immer einen evolutionären Schritt zu einer höheren Form, einer wertvolleren Version im Vergleich zu der ursprünglichen, die diesem Prozess vorausging.

In der [biologischen] Morphologie, im ersten Teil des Wortes abgeleitet aus dem altgriechischen morphé, spricht man von Gestalt, von der Form und damit einer [neuen] Oberfläche, welche es erlaubt, verschiedene Spezies unterscheiden zu können. Vor allem in Bezug auf neue bzw. besondere Funktionen, die sich daraus ergeben.

Auch in der Linguistik gibt es den Begriff der Morphologie. Neben den schon genannten Bedeutungen Gestalt und Form (morphé) stammt der zweite Teil des Wortes aus dem altgriechischen lógos und deckt ein weites Bedeutungsspektrum ab.
Uns interessieren hier nur die etymologischen Begriffe der Rede und ihrem Sinn, dem [geistigen] Vermögen und dem, was sie hervorbringen kann, die Vernunft.
Sowie die Bedeutung im Sinne von Definition (wir erinnern uns an Martin Luthers Nutzung des Begriffs in seiner Disputatio de homine?) und im weiteren bzw. weitesten Sinn auch der Erzählung [2].

Leben und damit auch die menschliche Form davon, ist dominiert durch Veränderung und folgerichtig der Verwandlung.
Idealerweise – entsprechend der biologischen Definition – zu einer höheren Form, also einer wertvolleren Version. Was wäre sonst der [evolutionäre] Wesenskern jeder Existenz [2] [3]?
Doch darum geht es nicht bzw. nur am Rande.

Manche werden es schon gemerkt haben: Ich spreche nicht direkt von Narzissmus im klassischen Sinn einer klar bestimmbaren Krankheit. Besser gesagt, einer eindeutig bestimmbaren Disposition.

Wobei die Herausforderung an die Bestimmbarkeit als Übergang von einem Zustand, der gesellschaftlich als normative bzw. soziale Norm akzeptiert wird, zu einem anderen, welcher dieses Normativ verletzt, mindestens aber herausfordert, durchaus den Kern des Problems darstellt.

Trotzdem lohnt es sich, den Begriff Narzissmus ein wenig näher zu beleuchten. Narzissmus als definierte psychische Krankheit in Form einer Persönlichkeitsstörung ist eingewoben in weitere pathologische Beschreibungen wie der zwanghaften, der dissozialen oder der paranoiden Persönlichkeit. Auch eine Diagnose wie Borderline [2] [3] [4] [5] fällt in diese Kategorie.

Psychologen würden vermutlich eine ganze Reihe typischer Indizien für eine narzisstische Person nennen.
Dazu gehörten vermutlich eine fehlende Bindungfähigkeit, fehlende Anerkennung und Wertschätzung, generell Neid auf andere, ein grandioses Gefühl der eigenen Bedeutung, eine enorme Fantasie eigener Erfolge und ein damit verbundener Machtanspruch. Eine beachtliche Einschätzung eigener Schönheit sowie einer besonderen Fähigkeit zur Liebe. Damit verbunden wäre wohl auch das Verlangen nach grundsätzlicher Bewunderung und die Erwartung, dass die anderen automatisch die eigenen Bedürfnisse erkennen und auf diese eingehen sollten.
Diese und andere Auffälligkeiten bündeln sich schliesslich in Diagnosen wie zum Beispiel einer histrionischen Persönlichkeit.

Von aussen blickt die Welt auf narzisstische Menschen deutlich verkürzter. Normalerweise charakterisiert als Typen [2] [3], die andere Menschen ausnutzen, keine oder kaum Empathie besitzen und generell neidisch und arrogant sind. Das war es dann auch oft schon. Hauptsache, man kann sich mit einer von der Allgemeinheit [2] negativ akzeptierten Bestimmung selbst abgrenzen.

Es ist leicht erkennbar, wie das Aussenbild mit dem Selbstbild [2] in einer nur schwer überbrückbaren Dissonanz [2] zueinander steht.

Das Problem scheint zu sein, es kann keine absolute kategoriale Trennung zwischen einer gesunden und einer gestörten Persönlichkeit geben. Wer sollte das auch präzise entscheiden?

Menschen sind kontinuierliche Subjekte. Sie sind keine stabilen Psychogramme [2] [3] und entziehen sich durch ihre im Rhythmus des Lebens eingewobene Instabilität einer eindeutigen Zuordnung in fixierte Kategorien.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) [2] hat in ihrem aktuellen Diagnosehandbuch IDC 11 [2] den Begriff Narzissmus komplett gestrichen und dafür eine Reihe psychischer Auffälligkeiten bzw. Kriterien definiert, die einzeln betrachtet und in unterschiedlichen Kombinationen zu einem Befund führen sollen.

Die Summe dieser Kriterien kann dann eine narzisstische Persönlichkeit definieren. Aber auch andere Persönlichkeitsstörungen wären daraus ableitbar.
Warum für eine Diagnose mindestens fünf Kriterien nötig sind, ist die Festlegung einer Expertenrunde. Ein wenig seltsam.

Leichter nachvollziehbar sind Kriterien, mit welchen eine relativ freie Gesellschaft aktuell eine gesunde Persönlichkeit definieren würde. Diese hätte vermutlich ein überwiegend stabiles Selbstbild, wäre zum Aufbau von Beziehungen fähig, damit auch in der Lage, die Perspektive anderer Menschen einnehmen zu können. Sie hätte die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, und könnte intime Beziehungen mit anderen Menschen in einer wechselseitigen Zufriedenheit leben.

Ich denke, damit sind die Frontlinien zwischen dem, was der dominante Teil einer Gesellschaft, was nicht die Majorität sein muss, als normale Persönlichkeit akzeptiert und den abnormen Verhaltensstrukturen, welche die gleiche Gesellschaft in ihrer jeweiligen Gegenwart ablehnt, deutlich genug geworden.

Um diesem Diskurs rund um das Thema Narzissmus einen, wenn auch relativ marginalen Fokus zu geben, will ich noch einmal den Aspekt der Einordnung in Kategorien beleuchten:

In der klassischen Psychologie wurden dissonante Merkmale einer Person kategorial klassifiziert, als diskrete und damit eindeutig von der psychischen Normalität (einer jeweiligen Gesellschaft) isolierbare Störungen.
Man könnte es auch als Versuch bezeichnen, die Unterschiede so voneinander zu trennen, um eine Art Label vergeben zu können. Nennen wir es der Einfachheit halber Schubladen.

Die dimensionale Klassifikation verfolgt einen anderen Ansatz. Dabei geht es nicht um die Abgrenzung einzelner Kategorien, sondern um die Berücksichtigung kontinuierlich verteilter Merkmale einer Person in ihrem situativen Zusammenwirken und damit auch unter Berücksichtigung der individuellen Chronologie einer Person.
Ausgangspunkt ist die Akzeptanz, dass Menschen (wie weiter oben schon erwähnt) kontinuierliche Subjekte und eben keine rubrizierbaren Objekte sind.

Man könnte auch sagen, die Resolution (Auflösung) der Betrachtung wird feiner, engmaschiger und in Bezug auf die betreffende Person individueller. Wissend: Jede Diagnose ist eine Momentaufnahme und keine finale Fixierung.

Bei näherem Nachdenken scheint dies klar, doch in einer Welt, die in den vergangenen wenigen Jahrhunderten vor allem durch den Ansatz produktiver Sequenzierung und damit Einordnung ihre Erfolge gesucht hat, ist dies nicht sehr überraschend.

Das Licht der Sonne ist ein einfaches Beispiel für ein kontinuierliches Signal, nicht nur mit einem symbolischen Charakter, sondern als präziseste Information über die Zeit, die schliesslich nie stillsteht. Zum Glück.

Eine für uns akzeptable und damit bestimmbare Zeitmessung ist jedoch nur möglich, indem man diese in abgrenzbare Einheiten teilt. Wie sonst ließe sich ein Zeitpunkt benennen?
Denken wir dabei an das Beispiel der aufkommenden Spiegel im ersten Teil zum Thema und die damit verbundene amorphe Selbstwahrnehmung.
Erst die Verfügbarkeit von Spiegeln erlaubte es den Menschen, die Vorstellung [das Bild] über die eigene Erscheinung zu jedem Zeitpunkt durch die Reflexion eines Spiegels zu sichern.

Wir könnten natürlich sagen, ich besuche dich, wenn die Sonne aufgegangen ist. Doch dies wäre nach heutigen Maßstäben einer funktionierenden Gesellschaft kaum denkbar. Es entstünden Zeiträume des Wartens ohne eigene Kontrolle. Nach heutigen Kriterien ein nur schwer zu akzeptierender Zustand.

Vielleicht kann man dimensionale Klassifikation auch mit der von Marvin Minsky [2], 1927 – 2016 beschriebenen Heterarchie [2] vergleichen? Eine Methode bzw. Systemik, die sich ihrer hierarchischen Zusammenhänge bewusst ist, diese auch berücksichtigt, jedoch die Qualität ihrer Deutung aus dem kontinuierlichen Zusammenspiel aller Merkmale durch die Gleichrangigkeit ihrer Elemente und Aspekte sucht.

Man könnte dies auch mit einem iterativen Prozess vergleichen, dessen einziges Ziel es ist, ein bestmögliches Ergebnis innerhalb einer Problemstellung (mit dem Ziel einer Lösung) zu ermitteln. Hierarchie wäre damit integrativer Teil einer heuristischen Suche, ohne die Chance auf eine Finalisierung.
Einfach darum, da dies dem Prinzip permanenter Transformation widersprechen würde (erinnern wir uns an die vorab angesprochene Metamorphose).

Aus einer [kategorialen] Schublade wird dann vielleicht ein Netz, anders ausgedrückt, ein Geflecht mit einer offenen Ausdehnung und Betrachtung.
Es gäbe stets nur eine Annäherung an einen Zustand, der sich beschreiben ließe, doch im Augenblick der Beschreibung einer immanenten und permanenten Veränderung ausgeliefert wäre. Warum ist dies wichtig?

Wenn ich von einem Geflecht spreche, meine ich präziser ausgedrückt ein Rhizom. Ein Rhizom ist ein Wurzelgeflecht unterhalb einer sichtbaren und damit [visuell] reflexiven Oberfläche. Wir kennen das aus einfachen Beobachtungen. Zum Beispiel im Sommer beim Betrachten einer blühenden Pflanze und dem Boden darunter. Wir wissen um die Tatsache ihrer Wurzel im unsichtbaren Untergrund, können aber nur darüber spekulieren, wie es dort genau beschaffen ist.

Der Begriff Rhizom taucht auch in der Philosophie und indirekt in der Psychologie auf. Wobei der Gedanke einer hierarchischen Struktur als Baum mit seiner zentralen Organisation des Stammes und seiner dezentralen Äste nicht gut funktioniert.
Es geht hier nicht um Einheiten, sondern um Vielheiten, die ohne Zentrum beziehungsweise ohne konkrete Anfangs- oder Endpunkte als offene Struktur und in freier Richtung Ausbreitung finden (können).

Starre Zuordnungen – wir sprachen von Kategorien – wären in der Logik eines Baumes eher dichotomisch und damit aufgeteilt in eindeutig abgrenzbare Teile, also Einheiten.
Dichotomie erlaubt keine Emulgatoren, also Hilfsstoffe, die eine Verschmelzung zwischen zwei Substanzen ermöglichen, welche ohne diesen Emulgator nicht zusammenfinden würden.

Dies ist natürlich eine Metapher und steht sinnstiftend für den hier wichtigen Gegensatz.
In der sozialen Ordnung menschlicher Gemeinschaften könnten wir auch von Schwarz/Weiss-Denken, von konträren oder auch kontradiktorischen Positionen sprechen.

Übergänge, Graustufen, plurale [2] Positionen (in sozialen Zusammenhängen könnten wir von komplementären Sichtweisen und möglicherweise auch von Kompromissen [2] sprechen) sind in einer dichotomisch geprägten Welt kaum vorgesehen.

Autokratien definieren und stabilisieren ihren Machtanspruch häufig über die unüberbrückbare Trennung einzelner Positionen, also Gegensätze.
Man könnte sagen: Selbstherrschaft (Autokratie) bezieht ihre Berechtigung aus der kompromisslosen Verteidigung einzelliger Positionen, die meistens nur mit einem Verlust an Freiheit und einem Ausbreiten von Gewalt verteidigt werden können.

Womit wir uns langsam dem gedanklichen Kern der Überschrift Neonarzissmus und den beiden dazugehörenden Texten nähern.

Wie gesagt, auch die Psychologie kennt den Begriff der Dichotomie und meint damit absolute Denkmuster.
Die betrachtete Welt wird dabei von einer Person so weit verzerrt, dass nur noch zwei Schubladen gefüllt werden können.
Alle möglichen Zwischenpositionen werden unmittelbar zu dem einen oder dem anderen Extrem verdichtet. Und Verdichtung bedeutet immer Spannung (bei uns Menschen wäre dies gleichbedeutend mit Anspannung).

Oder die gleiche Person teilt sich selbst in zwei Teilpersönlichkeiten, da die Welt nur über eine Dissoziation der eigenen Person ertragen werden kann. Einer Spaltung beziehungsweise Abspaltung (der Persönlichkeit), da nur so ein Überleben möglich scheint.

Der Begriff Reflexion (der Fokusbegriff im ersten Text zum Thema) bedeutet in philosophischer Lesart Nachdenken mit dem Ziel, über das Vergleichen zu einer weiterführenden Einschätzung zu gelangen. Dies gilt auch im Zusammenhang von Selbstreflexion und der damit verbundenen Selbsterkenntnis.
In einer idealen Welt.

Der nur scheinbar verwandte Begriff Reflex ist das friedlichere Geschwister des Affekts. Ein zentraler Unterschied besteht darin, dass ein Reflex nicht durch eine souveräne Entscheidung in Folge der Reflexionsfähigkeit einer Person ausgelöst wird, sondern eher umgekehrt: Die Person ist das Opfer einer kaum steuerbaren Reaktion auf [äussere] Reize und folgt dieser Stimulation mehr oder weniger automatisch und weitgehend unbewusst.

Medizinisch kennen wir diesen Effekt bei der Muskelkontraktion des Unterschenkels, wenn bei einem Gesundheitscheck ein Impuls unterhalb der Kniescheibe erfolgt.

Wenn wir dies im übertragenen Sinn auf unser Sozialverhalten anwenden, spielen Prägungen [2] sicher eine besondere Rolle. Alles, was wir in unserem Leben zu einer Routine [2] erheben, erhält dadurch Bedeutsamkeit und wird zur Richtschnur für darauf aufbauende Entscheidungen.
Wie souverän wir diese auch treffen mögen.
Lassen wir dabei mal die sicher wichtige Unterscheidung in unterschiedliche Altersstufen und die damit verbundenen Prägungsphasen beiseite.

Prägungen werden zu Gewohnheiten und führen über die stetige Wiederholung zur Verfestigung des gedanklichen Untergrundes, vergleichbar mit einem [kognitiven] Trampelpfad, der jeden Schritt ausserhalb des bekannten Bodens unsicher erscheinen lässt und im Extremfall Angst auslösen kann.

Eigentlich sprechen wir von banalen Fragen rund um die menschliche Existenz [2]. Immer geht es um die Suche nach belastbarer Erkenntnis. Es geht um Überzeugungen, um grundsätzliche Gewissheiten, die –einem Geländer gleich – den Aufwand zum Emporsteigen auf die jeweils nächsten Stufen, was jedes Leben in der Konsequenz des Lebens selbst fordert, leichter erreichen lässt.

Wie im Mikrokosmos einer einzelnen Person geht es auf einer höheren Ebene auch der Erkenntnistheorie um genau das: Das Verhandeln verschiedener Positionen und den akzeptablen Zweifel an dem, was man Gewissheit nennen könnte.
Die Suche nach der Wahrheit ist dabei stetiger und gleichzeitig unerreichbarer Humus der Auseinandersetzung.

Das Problem: Die Subjektivität individueller Wahrnehmung kann nie komplett eliminiert werden. Wer sonst als ein menschliches Wesen sollte – mit der Fähigkeit zur sprachlichen und symbolischen Verhandlung – final über das Richtige oder Falsche entscheiden?

Der griechische Philosoph Platon, 428348 v. Chr., hat mit dem Höhlengleichnis eine eindringliche Parabel formuliert, die ziemlich perfekt die Basis für eine lang gestreckte Kurve in Richtung der Zielgerade meiner Gedanken zu diesem Text bietet.

Das platonische Gleichnis beschreibt eine Höhle tief unter der lichten Oberfläche. Dort verbringen Menschen, bewegungslos in einer starren Position gefesselt ihr ganzes Leben. Sie haben keine Kenntnis von sich selbst, nicht von den anderen Gefangenen und nicht von dem Ausgang, der sich hinter einer Mauer im Hintergrund befindet.
Sie sehen nur ein Schattenspiel vor sich flackernd an der Höhlenwand.

Diese Schatten werden von einem Licht hinter der Mauer permanent beleuchtet und zeigen die Umrisse menschlicher Figuren, anderer Lebewesen und Gegenstände. Manche der Gefesselten sprechen mit den Schattenwesen. Die anderen, die keinen Laut von sich geben, gehen davon aus, die Schatten würden zu ihnen sprechen.

All das ist für die Gefangenen die Wirklichkeit. Über die Zeit versuchen sie die Handlungen der flackernden Schatten zu deuten, daraus Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, um Vorhersagen zu treffen, wie es in der Zukunft weitergehen könnte.

In dem Gleichnis wird nun darüber spekuliert, was geschähe, wenn eine gefangene Person losgebunden werden würde und damit die Möglichkeit erhielte, in Richtung des Höhlenausganges zu schauen, wo sie die Gegenstände auf der Mauer sehen könnte, die das Schattenspiel verursachen.

Diese Person wäre geblendet von dem Licht und würde den realen Gegenständen weniger Glauben schenken als den Schatten an der Wand. Sie würde verlangen, sofort wieder gefesselt in die gewohnte Position gebracht zu werden.

Nun würde man eine der gefesselten Menschen mit Gewalt durch den Höhleneingang an die Oberfläche bringen und der lichten Welt aussetzen. Nur unter Zwang und sehr langsam würde sich die befreite Person an das Licht gewöhnen und irgendwann verstehen, dass es die Sonne ist, die das Spiel der Schatten in der Höhle ermöglicht. Langsam würde sich die Wahrnehmung und damit die Wirklichkeit für die befreite Person verändern.

Die gleiche Person hätte kein Bedürfnis mehr, in die alte Position im Dunkel der Höhle zu sein. Würde sie es dennoch versuchen und wieder den alten Platz hinter der Mauer einnehmen, so hätte sie Probleme, im Dunkel die fahlen Schatten an der Höhlenwand zu erkennen, da die Augen an das Licht ausserhalb der Höhle gewohnt waren.

Die anderen Menschen würden diese Person auslachen und folgern, sie hätte sich die Augen dort draussen verdorben.
Alle, die noch nie das Licht ausserhalb der Höhle gesehen hatten, beschlossen, sie würden sich zusammen tun und jeden töten, der sie zwingen wollte, die Höhle zu verlassen und damit verhindern, nicht mehr dem fahlen Spiel der Schatten folgen zu dürfen.

E.M. Forster, 1879 – 1970, beschreibt in seinem schmalen Buch Die Maschine steht still knapp 2400 Jahre später eine Welt, in der Menschen ohne Kontakt zueinander und ohne die Fähigkeit, sich noch alleine bewegen zu können, in kleinen Höhlen tief unter der Erde leben.
Sie würden dort komplett versorgt und ihre einzige Aufgabe wäre, ständig neue Ideen zu entwickeln und diese dem System mitzuteilen, einer übergeordneten Instanz.
Sie wüssten nichts über diese Instanz. Sie wüssten nicht, warum und wofür.

Es gibt vermutlich zwei dominante Perspektiven, wie man die Entwicklungszyklen der Welt als Ganzes und seiner Teile verstehen könnte. Die erste wäre jene, die besagt, dass sich zwar die Frequenzen jeder Veränderung unterscheiden, im Prinzip sich aber alles wiederholt und nur der Grad der Komplexität eine jeweils neue Variante des Lebens böte.

Im zweiten Fall könnte man wie folgt spekulieren: Die erste Perspektive wäre zwar im ersten Teil der Definition richtig, in der Konsequenz dessen, was sich über die Zeit entwickelt und verändert, aber nicht präzise genug.

Vielleicht sind die Einflussfaktoren zum Normativ unserer Gegenwart, das, was Menschen wahrnehmen (müssen), was sie verarbeiten (können) und was sie berücksichten (sollten), so komplex geworden und die Dynamik des Umfelds so schnell, dass nur noch der [soziale] Rückzug als Lösung empfunden wird.

Ausgehend von diesem Gedanken könnte ich nun viele neue Türen öffnen. Ich könnte mich mit einigen Details aus der Politik, der Wirtschaft und auf einer anderen Ebene auch der Kultur beschäftigen. Ich könnte den Einfluss einer zunehmenden digitalen Parallelität unserer Welt zu beschreiben versuchen.

Damit verbunden könnten wir das Kapitel mit dem Titel der Künstlichen Intelligenz aufschlagen und eine Antwort auf die Frage suchen, wie die Menschheit eine Intelligenz beherrschen kann, welche dann intelligenter ist als die Menschheit selbst.
Wir würden vielleicht versuchen, der Intelligenz [2] selbst einen anderen Stellenwert zu geben, um den Wert unserer Existenz nicht reduzieren zu müssen.
All das will ich hier nicht tun.

Meine letzte Forschungsarbeit (Diplomarbeit) an der Universität der Künste (UdK) in Berlin im Herbst 1991 hatte den Titel KIT. Dieses Akronym stand für Kinetic Interface Tool. In der Dokumentation zu dieser Arbeit habe ich die Idee zu diesem neuartigen digitalen Werkzeug Personell Kingdom genannt. Noch ungeachtet der genderkorrekten Sprache in unserer Gegenwart.

Ich hatte damals die Vermutung geäussert, was es mit uns Menschen macht, wenn wir wirklich glauben würden, all das zu können und zu sein, was uns der Anschein um uns herum glauben lässt.
Ich habe darüber sinniert, wie angenehm es im Prinzip wäre, wirklich in der Vorstellung zu leben, wir hätten die Sicherheit und die Geborgenheit über unser ganzes Leben.
Ein Gefühl, wie wir es – wenn wir Glück hatten – in den ersten wenigen Jahren unseres Lebens erfahren.
Irgendein System, eine Instanz, die wir vielleicht zu bezahlen hätten, würde dies garantieren und sich um uns kümmern.

Im Herbst 2023 fand in Dubai die Weltklimakonferenz (COP28) [2] [3] [4] [5] [6] statt. Die UN-Universität (UNU) hatte dort sechs sogenannte Kipppunkte definiert:
Beschleunigtes Artensterben, Erschöpfung des Grundwassers, Gletscherschmelze, Weltraumschrott, unerträgliche Hitze sowie eine nicht mehr versicherbare Zukunft.
Zu diesen sechs Herausforderungen wurden Menschen weltweit befragt. Auf dem ersten Platz landete der Punkt einer nicht mehr versicherbaren Zukunft.

Im Herbst 2004 war ich Gast in der Fakultät der Hochschule, an der ich seither lehre (THWS). Nach der damaligen Probevorlesung wurde ich aus dem Publikum der Studierenden gefragt, was aus meiner Sicht das grösste Problem auf unserer Welt wäre.
Ich fragte zurück, ob ich auch zwei Probleme nennen dürfte. Das durfte ich, und ich sagte, das erste Problem wäre der zunehmende Mangel an Wasser für die Menschheit.

Das zweite Problem wäre die Angst. Warum?
Nun, darum ging es mir im Kern in den beiden Texten unter dem Titel Neonarzissmus.

Wenn nun jedoch jemand glaubt, all das wäre eine negative Perspektive auf die Welt und ohne Hoffnung, der täuscht sich gewaltig.
Wir müssen nur genau hinschauen.
Und dann aktiv werden.

Für alle die gerne den ersten Teil lesen wollen: NEONARZISSMUS_1 [reflexiv]


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2024

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