INSELBEGABUNG / SAVANTS

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Vielleicht nutzen wir ja nur einen sehr kleinen Bereich unseres Gehirns. Das wäre schade. Oder?

Wer hätte nicht gerne besondere Begabungen. Wer wäre nicht als Kind froh gewesen, wenn man eine Sprache über Nacht gelernt hätte. Oder einfach eine Rechenaufgabe hätte lösen können, ohne endlos darüber nachzugrübeln. Oder wenn man sich einfach an alles erinnern könnte und nichts mehr vergessen würde.

Wäre das nicht ein Glück? Tatsächlich gibt es Menschen, die über extreme, in sich isolierte Begabungen verfügen. Menschen, die in einem Bereich eine, man könnte sagen, Hyperkompetenz haben und diese in der Regel schon als Anlage seit ihrer Geburt.

Es gibt jedoch auch Menschen, die durch eine massive Einwirkung auf ihr Gehirn, meistens verursacht durch einen Unfall, in anderen Fällen auch nach einer Hirnhautentzündung, ohne manifesten Übergang plötzlich über eine spektakuläre Begabung verfügten und diese auch in der Folge nicht mehr ablegen konnten.
Deren Leben war plötzlich verändert. Ohne jeden Hinweis, dass hier eine Anlage bisher unbemerkt geblieben wäre, sind sie in der Lage, beispielsweise innerhalb weniger Tage eine Sprache zu erlernen, sie entwickeln mathematische Kompetenzen aus dem Nichts, sie können nichts mehr vergessen oder sie entwickeln die Fähigkeit, eine Stadt in jedem Detail nachzuzeichnen, welche sie nur einmal mit dem Helikopter überflogen haben. 


So wie zum Beispiel Stephen Wiltshire, 1974 in London geboren. Bei ihm wurde im Alter von vier Jahren Autismus diagnostiziert. Im gleichen Jahr starb sein Vater bei einem Motorradunfall. Kurz darauf entwickelte er diese besondere Fähigkeit eines nahezu absoluten fotografischen Gedächtnisses.

Auch wenn man vermuten darf, dass sich bei Stephen Wiltshire diese spezielle Anlage nicht erst mit vier Jahren entwickelt hat, so scheint die Spekulation zumindest interessant, welche komplexen Einflussfaktoren zu diesen extremen Kompetenzen führen und wie stark diese voneinander abgrenzbar sind. 

Diese Frage ist schon daher spannend, da man sich die Frage stellen kann, welche Hemmnisse die sogenannten normalen Menschen davon abhalten, in zumindest ähnlicher Weise ihre Anlagen und Talente (Potenziale) zu entwickeln. 

Der Begriff Potenzial kommt meinen Gedanken sehr entgegen, da damit auch die Potenz und damit der Multiplikator gemeint ist. Semantisch könnte man daher interpretieren, es müsse doch irgendwie einen Trigger geben, wie man seine eigenen Gaben und Talente exponentiell entwickelt. Wie gesagt, ohne viel Mühe und Arbeit.

Sicher ist, dass viele der sogenannten Inselbegabten (auch Savants genannt – in der französischen und englischen Sprache bedeutet der Begriff übersetzt Wissender oder Gelehrter) Autisten sind bzw. andere kognitive Einschränkungen haben, welche ein normales Leben im Sinne üblicher gesellschaftlichen Konventionen behindern oder unmöglich machen.

Im Fall von Inselbegabungen, die seit Geburt vorhanden sind, haben diese Menschen in den meisten Fällen die schon erwähnten autistischen Ausprägungen (wie auch Stephen Wiltshire). Sie sind überwiegend davon abhängig, in einem sozialen Umfeld leben zu können, welches ihr Leben und damit vor allem ihren Alltag organisiert. 

Der irritierende Aspekt ist, dass diese Menschen generell, also in Bezug auf andere Kompetenzen, welche üblicherweise zum gesellschaftlichen Standard gehören und von dieser Seite erwartet werden, stark eingeschränkt sind. 

In diesem [kognitiven] Kompetenzumfeld liegt der messbare Intelligenzquotient im Durchschnitt bei ca. 70 oder darunter.

Menschen wiederum, die erst in ihrem späteren Leben mit dem Phänomen konfrontiert werden, aus dem Nichts eine Inselbegabung zu entwickeln, bleiben in ihren Anlagen, welche vor einer äusseren oder inneren Einwirkung auf ihren Kopf vorhanden waren, überwiegend stabil. 

Seltsam ist, mehr als 80 Prozent der Menschen mit Inselbegabungen sind männlich. Nun sollte man nicht dem Gedanken verfallen, hier würden besondere Anlagen bei Menschen mit männlichen Geschlechtsorganen vorliegen. Vielmehr spekuliert die Wissenschaft über pränatale Prozesse, vor allem im Zeitraum der zehnten bis zur achtzehnten Woche, in welchen, egal welches Geschlecht, ein exponentielles Wachstum des Gehirns eintritt und damit weitreichende hirnphysiologische Veränderungen vorantreibt. 

Wenn nun dieses Wachstum gestört wird, können Schädigungen des Gehirns eintreten. Eine dieser Störungen wird durch das Testosteron vermutet, welches bei männlichen Embryos in dieser Wachstumszeit im Körper frei zirkuliert. Einfach darum, da in diesen Wachstumswochen die Hoden angelegt werden. 

Die Forschung hat keine finalen Antworten darauf, wie konkret die hirnphysiologischen Veränderungen zustande kommen. Generell darf man aber davon ausgehen, es werden Prozesse ausgelöst, die zu deutlichen neuronalen Fehlschaltungen führen. Dabei spielen die Einwirkungen und Veränderungen der beiden Hirnhemisphären (linke und rechte Hirnhälfte) eine bedeutende Rolle. Auch die Tatsache, dass bestimmte Hirnregionen im Prinzip oder in der Folge (nach einer äusseren Einwirkung) deutlich schwächer ausgebildet oder komplett ohne Funktion sind, ist ein wichtiges Merkmal bei Menschen mit Inselbegabungen.

Der Niederländer Douwe Draaisma, Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie, nennt eine Inselbegabung eine isolierte Gabe inmitten von Defekten. Damit formuliert er, vor dem Hintergrund der Frage nach gesellschaftlichen Konventionen, sicher eine präzise Einordnung bzw. Definition. 

Diese Definition von Draaisma ist als Begriff ein guter Ausgangspunkt, der mich im Zusammenhang mit dem Phänomen einer Inselbegabung seit Langem beschäftigt: 

Welche verborgenen Potenziale könnten Menschen generell entwickeln, wenn die nicht konventionellen Anteile ihrer Persönlichkeit nicht als Defekt wahrgenommen werden würden?

Um es gleich vorwegzunehmen. Es geht dabei nicht um eine Romantisierung bzw. Idealisierung einer hirnphysiologischen Beeinträchtigung, die für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld im Alltag eine starke Herausforderung darstellen.

Es geht schlicht um die Frage, welche grundlegenden Potenziale beim Menschen durch gesellschaftliche Konventionen, die im Zusammenspiel mit frühen Prägungen generell und speziell mit Prägungen, welche von den klassischen Bildungs- sowie darauf aufbauenden Berufssystemen eingefordert werden, verhindert oder mindestens eingeschränkt werden?

Auch hier ist mir die Feststellung wichtig, dass es weder um eine pauschale Dämonisierung des Bildungssystems geht, noch um eine naive positive Position, die davon ausgeht, es müsste doch so einfach sein, sehr viel mehr aus individuellen Anlagen zu machen, wenn man nur…

Nein, mein Ziel ist eine Perspektive, die sich, wie eben formuliert, vor allem damit beschäftigt, wie Menschen generell ihr Potenzial entwickeln, wie sie das Motiv für ihre Motivation entdecken und damit natürlich auch, was dies verhindert.

Es gibt eine Vielzahl von Theorien und Untersuchungen, welche zum einen die Ursache, aber auch die Varianten von Inselbegabungen beschreiben und damit erklären wollen. Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass Menschen mit den hier schon kurz beschriebenen Extrembegabungen über eine eingeschränkte Funktionalität ihrer linken Gehirnhälfte verfügen. 

In der Wissenschaft werden die sogenannten beiden Hirnhälften des Menschen auch Hemisphärenmodell genannt, ganz so, als könne man unser Gehirn mit dem kompletten Planeten vergleichen, bei dem je eine Hemisphäre für eine Halbkugel stünde, getrennt von dem Äquator und durch die extreme Distanz der beiden Pole die Zweiteilung noch radikaler würde. 

Diese Metapher wird dann wieder nachvollziehbar, wenn man das Motiv mit dem Machtanspruch vergleicht, den die Menschheit auf diese Planeten für sich in Anspruch nimmt. 

Aber zurück zu den im Vergleich zu unserem Planeten sehr kleinen Hemisphären im Kopf eines Menschen.

Forschungen, vor allem in den 1960er-Jahren, haben damals belegbare Erkenntnisse erbracht, nachdem Menschen, bei denen das Corpus callosum getrennt ist (entweder konkret, also physikalisch oder durch einen Schlaganfall und damit strukturell) bestimmte Leistungen nicht mehr erbringen konnten. Damit wurde die damalige Vermutung verstärkt, dass das Gehirn bzw. beide Hirnhälften klare und eigenständige Funktionen hätten. 

Tatsächlich ist es in den Fachkreisen der Hirnforschung nicht umstritten, dass die beiden Hirnhälften tatsächlich divergente Funktionen für die Lebensrealität des Menschen innehaben. Ein für mich vor einigen Jahrzehnten schönes Beispiel war und ist die anthropologische Perspektive, nach der die Entwicklung und die funktionale Modellierung des menschlichen Gehirns damit zu tun hat, wie der Mensch seine eigene Entwicklung buchstäblich in die Hand genommen hat. 

Ich hatte 1990 mit Dr. Gerhard Huhn im Zusammenhang meiner damaligen Diplomarbeit zum Thema Mensch/Maschine ein Gespräch zum damaligen Stand der Hirnforschung. Gerhard Huhn, ehemaliger Jurist, hat sich diesem medizinisch noch relativ neuen Thema gewidmet, da er das Prinzip Gehirn vor allem in Bezug auf die gesellschaftlichen Konventionen und hier besonders das Bildungssystem besser verstehen wollte.
Tatsächlich, auch wenn das hier nicht vertieft werden soll, hat er meine Neugier geweckt, da er das komplette Bildungssystem in Verdacht genommen hat, gegen den ersten Artikel der deutschen Verfassung zu verstossen. Dieser lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Tatsächlich war diese Kritik für ihn der Einstieg in ein Medizinstudium zum Thema Hirnforschung.

Er hat mir damals eine Metapher nahegebracht, die mir einleuchtete und die sicher auch bis heute eine besondere Eindringlichkeit hat, wenn man versucht, die Komplexität des Gehirns im Zusammenspiel des menschlichen Körpers in seinem täglichen Existenzkampf zu verstehen.

Der Körper des Menschen ist weitgehend hemisphärisch [2] strukturiert. Alle Gliedmaßen und nahezu alle Organe hat der Mensch beidseitig. Das muss Gründe haben. 

Das eindringliche Bild war nun die Nutzung der Hände in einer Zeit, in der das Wissen und das damit verbundene Bewusstsein noch in seinen Anfängen begriffen war. Wir sprechen von der Zeit vor ungefähr 60.000 Jahren, als die noch junge Menschheit langsam und sehr zersplittert auf Teilen unseres Planeten, erste kulturelle Perspektiven, vor allem aber erste Ideen von Werkzeugen entwickelten (zur Erinnerung: der Neandertaler ist vor ca. 40.000 Jahren ausgestorben und hat dem Homo Sapiens das Feld weitgehend überlassen). 

Menschen haben nun im Verlauf ihrer frühen Entwicklung die Idee und damit das Potenzial von Werkzeugen irgendwie erkannt. Auch dies hat mit der Entwicklung ihres Gehirns zu tun, aber wir wollen uns hier nur auf folgenden Gedanken konzentrieren: Nehmen wir die Idee eines scharfkantigen Steins (ein Feuerstein), zufällig oder mit Absicht gefunden und ein materiell schwächeres Werkstück, nehmen wir an, es wäre Holz, das zur Verarbeitung in die eine, das Werkstück umfassende Hand genommen wurde. Diese Hand, spekulieren wir, es wäre die linke gewesen, umfasste dieses Werkstück so komplett, dass es mit der rechten Hand und dem darin liegenden Stein (als Werkzeug) bearbeitet werden konnte. 

Die linke Hand umfasst also das zu gestaltende Objekt und damit das, was der Mensch als Ganzes im Blick für die Bearbeitung behalten möchte. Mit der rechten Hand und dem zielgerichteten Werkzeug, dem erwähnten Stein, beginnt er, das Werkstück in kleinen, in sequenziellen Schritten zu bearbeiten. Er schnitzt und teilt damit den Prozess seiner Tätigkeit in kleine Phasen, damit teilt er auch die Zeit in Abschnitte, die den Fortschritt, wenn auch zu der Zeit sicher unbewusst dokumentiert. 

Der Erfolg der Bearbeitung dieses Stück Holz, das vielleicht ein Keil werden sollte, um eine Behausung vor dem Abrutschen bei starkem Regen zu sichern, war also von der funktionalen Qualität, es wurden möglicherweise mehrere Keile benötigt und damit auch einer bestimmten Geschwindigkeit gekennzeichnet, wie schnell der Keil angefertigt wurde.
Warum ist dieses Bild nun eine gute Metapher für die Entwicklung des Gehirns bzw. seiner beiden Hemisphären?

Es gilt als sicher, dass die Extremitäten des Menschen, seine Hände und Arme wie seine Füsse bzw. Beine, spiegelbildlichen Einfluss auf das Gehirn haben. Wenn also der Mensch zu der damaligen Zeit mit seiner linken [Gestalt gebenden] Hand das Werkstück hält, so kann man mindestens vermuten, dass dieses Motiv auch für die spiegelbildliche rechte Gehirnhälfte eine gewisse Wirksamkeit entfaltet hat.
Das gleiche gilt für die rechte Hand, die eben die kleinen syntaktischen Prozesse beim Schnitzen auslöst. Auch diese eher rationalen und funktionalen Abläufe werden sich vermutlich auf die Entwicklung der linken Gehirnhälfte ausgewirkt haben.

Für mich war diese Metapher damals einleuchtend und das ist sie in einer gewissen Weise noch heute.

Mit dem, was man mit der heutigen Erkenntnis aus der Hirnforschung weiss, ist es jedoch nicht mehr haltbar, die beiden Hirnhälften als starre, in sich geschlossene Bereiche zu betrachten. 

Die über lange Zeit postulierte Version war dadurch geprägt, dass die linke Seite des menschlichen Gehirns ausschliesslich für die regelbasierten Abläufe, das logische Denken, die Syntax von Sprache, die Fähigkeit zur Analyse, das sequenzielle bzw. lineare Denken und generell dem Folgen komplexer Prozesse verantwortlich ist. 

Dem gegenüber hat man der rechten Hirnhälfte ausschliesslich die sogenannte Gestalt bildende, generell die emotionalen Fähigkeiten, das kreative Denken, die Kraft zur Vorstellung, die Körpersprache und damit eine generalistische Kompetenz innerhalb der menschlichen Existenz zugesprochen. 

Dazu gehörte die Fähigkeit, Informationen gleichzeitig zu verarbeiten, die simultane Wahrnehmung, zum Beispiel beim Betrachten eines Bildes und damit die Interpretationsfähigkeit generell. 

Mit der rechten Gehirnhälfte wird vor allem die Intuition in Verbindung gebracht. Wir sehen ein Gesicht und interpretieren, wie es dem anderen Menschen geht. Die Welt wird in seinen Zusammenhängen betrachtet, man kann dies auch Kontextfähigkeit nennen. 

Der rechten Gehirnhälfte geht es eher um die qualitative als die quantitative Einordnung der Wahrnehmung. Damit gibt man diesem Teil unseres Gehirns vorwiegend die Fähigkeit zur Vision und damit zur Idee im Sinne eines noch nicht realisierten Zustandes. Es geht um bildhaftes Denken, das transformative Vorstellen einer Situation, die überwiegend noch nicht eingetreten ist, also noch in der Zukunft liegt. Es ordnet die Welt vor allem nach ihrer Bedeutung dessen, wie sie sein könnte und weniger nach der Logik, wie sie ist. 

Die linke Gehirnseite würde sagen, ein Mann ist ein Erwachsener männlichen Geschlechts, mit den typischen Geschlechtsmerkmalen, einem Ypsilon Chromosom, Bartwuchs, usw..

Die rechte Gehirnseite würde sagen, ein Mann ist wie mein Onkel Max, der konnte mich in die Luft werfen und hat mich mit seinen kräftigen Armen aufgefangen und wieder sicher auf dem Boden abgesetzt.

Nun kann man diese funktional isolierte Trennung der Aufgaben beider Hirnteile heute so nicht mehr darstellen. Generell geht es eher um Schwerpunktkompetenzen im Gehirn, die sich wechselseitig, wenn es nötig ist, unterstützen, die sich aber auch gegenseitig behindern können.

Ich beziehe mich im Weiteren zum Thema Hirnhemisphären teilweise auf den Artikel Der Kampf im Kopf von Tobias Hürter, der im Jahr 2014 auf www.wissenschaft.de erschien. 

Im Kern und vorangestellt kann man sagen, das menschliche Gehirn spiegelt in seiner evolutionären Entwicklung immer auch die gesellschaftliche Situation und damit das soziale Umfeld. Im Umkehrschluss gilt vermutlich, der Mensch prägt damit selbst dieses Umfeld und tut dies bis heute. Zusammen genommen könnte man also behaupten, dass die aktuelle Analyse des menschlichen Gehirns etwas über die Situation der sozialen Realität der Gemeinschaft erzählt, in der jeder einzelne Mensch lebt. 

Der Autor Stanislaw Lem, 19212006, hat in dem im Jahr 1987 erschienen Roman Frieden auf Erden die Figur Ijon Tichy erschaffen, dessen Gehirn auf einer Mondmission mit einem Ultraschallskalpell getrennt wurde. Er lässt seinen Protagonisten sagen: Es gibt Momente, wo mein unglückseliger Leib in zwei feindliche Lager zerfällt, berichtet Tichy. Wenn seine rechte Hand schreiben will, muss sie die linke fesseln. Wenn die Linke sich mit der Rechten verständigen will, muss sie ihr Zeichen machen, wie sie zur Sprache der Taubstummen gehören.

Tatsächlich gab es bis in die 1970er-Jahre die medizinische Routine, dass die beiden Gehirnhälften von Menschen mit einer schweren Epilepsie durch die sogenannte Callosotomie behandelt wurden. Das bedeutete, dass die Nervenbahnen zwischen den beiden Hirnhemisphären getrennt wurden, mit dem Ziel, die Menschen von ihren Anfällen zu befreien. 

Das hatte auch zu Beginn den gewünschten Effekt. Jedoch kam es nach einer gewissen Zeit zu Komplikationen, die der Beschreibung von Stanislaw Lem ähneln (bzw. basierte die Idee zu seiner Romanfigur diesem medizinischen Phänomen). 

Die Menschen, die aufgrund ihrer Epilepsie wie oben beschrieben behandelt wurden, entwickelten sich zu gespaltenen Persönlichkeiten. Sie verloren zunehmend die Fähigkeit, eine mit sich selbst einvernehmlichen Entscheidung zu treffen und begannen sowohl kognitiv als auch körperlich und damit konkret habituell divergente Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Bis zu extremen Situationen, bei der die gedachte Entscheidung, mit der einen Hand etwas zu greifen, von der anderen Hand aktiv behindert wird, indem sie nach etwas anderem greift. 

Diese verstörende Vorstellung macht deutlich, dass jede individuelle Persönlichkeit sehr viel komplexer verstanden werden muss. Der britische Psychiater Iain McGilchrist, der im Weiteren zu Wort kommen soll, meinte dazu: In uns leben zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten, hervorgebracht von den zwei Hälften unseres Gehirns.

Prof. Onur Güntürkün von der Abteilung Biopsychologie an der Universität in Bochum widerspricht allerdings klar der divergenten These der isolierten Funktionalität im menschlichen Gehirn. Er nennt dies klar eine Art von Wildwuchs, der wissenschaftlich nicht belegt werden könne. So könne man zwar belegen, dass Sprachprozesse im Gehirn durchaus auf der linken Seite relativ manifest stattfinden. Zum Beispiel auch die motorische Sprachumsetzung über die Muskulatur im Gesicht bzw. dem Mundraum. Auch abstrakte Begriffe, er nennt hier zum Beispiel Freiheit oder Liebe, werden linksseitig verarbeitet. Konkrete Begriffe, eher dem Pragmatismus im Alltag zugeordnet, wie zum Beispiel Computer oder Kaffeetasse werden in beiden Gehirnhälften abgelegt und verarbeitet bzw. sind dort repräsentiert. 

Die rechte Seite spielt vorwiegend eine Rolle, wenn es um die Sprachmelodie geht, die Intonation und damit den Ausdruck von Sprache. Auch das sogenannte Interpretieren, wenn wir von dem Lesen zwischen den Zeilen sprechen, wird der rechten Hirnhemisphäre zugeordnet. 

Onur Güntürkün spricht hier von Asymmetrien [2] bei der Aufgabenverteilung. Die Orientierung im Raum, das Verständnis von Zahlen und das spontane Erkennen von Gesichtern ordnet er der rechten Gehirnhälfte zu. Das Erfassen und die Zuordnung kleiner Zeitintervalle bzw. die Detailwahrnehmung wiederum links. Aber eben nie isoliert voneinander, sondern immer als ein, wenn auch komplexes und nicht konfliktfreies Zusammenspiel.

Er widerspricht klar dem, in seinen Worten, Mythos, dass beide Hirnteile in die Überschriften der analytischen und der ganzheitlichen Kompetenz getrennt werden können. Das macht er am Beispiel des Begriffes der Empathie deutlich. 

Die Fähigkeit zur Einfühlsamkeit könne eben nicht dadurch gefördert werden (am Beispiel der Pädagogik), dass man sich besser in einen Menschen hineinversetzen könne, in dem man die rechte Hirnhemisphäre dadurch aktiviert, wenn man die ganze Zeit einen Gummiball quetsche

Ebenso spricht er sich dagegen aus, es gebe Belege dafür, es würden rechts- oder linkshemisphärisch geprägte Kulturen existieren. Und damit natürlich auch die ideologische Interpretation, dass eine vornehmlich von der Logik geprägte Kultur dem Prinzip der linken Hirnhälfte entspräche (und in der Interpretation eher negativ dargestellt wird) und eine weichere, humanere Form der Kultur automatisch der rechten Hirnhälfte zu fiele (und in dem Zusammenhang positiver dargestellt wird).

Letztlich postuliert er, dass beide Seiten immer zusammenarbeiten und nicht isoliert voneinander betrachtet werden können.

Dem würde auch ich nicht widersprechen. Jedoch bin ich der
festen Überzeugung, dass der kulturprägende Einfluss bzw. die anthropologische Dimension nicht unterschätzt werden kann. Wissenschaftlich aktuelle Belege hin oder her. 

Das menschliche Gehirn ist nicht das einzige Doppelorgan im Körper. Die Lunge, Niere und Schilddrüse sind ebenfalls sowohl symmetrisch als auch doppelt zueinander ausgerichtet.

Bei dem Gehirn gibt es die Besonderheit, dass beide Hemisphären relativ lose miteinander verbunden sind und diese Verbindung in der anthropologischen Entwicklung sich sogar über die Zeit weiter reduzierte. 

Eine besondere Erkenntnis liegt in der neueren Hirnforschung darin, dass zwar beide Hirnhälften aufeinander angewiesen sind, fällt eine Seite zum Beispiel nach einem Unfall oder nach einem Schlaganfall auf Dauer oder zeitweise aus, dann kompensiert die andere Seite diesen Verlust; die beiden Hirnhälften beeinträchtigen sich in ihrer funktionalen Wirksamkeit aber durchaus gegenseitig, wenn keine Not zu regulieren ist.

Man könnte sagen, dass sie dann zum Teil gegeneinander arbeiten und damit dem Träger des Gehirns buchstäblich das Leben schwer machen können.

Iian McGilchrist beschreibt es wie folgt: Man kann jeder Hirnhälfte eigene Ansichten, Absichten, Ziele, Werte und Neigungen zuschreiben. Und auch Goethe schrieb im Faust: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der anderen trennen…

Man könnte fast vermuten, dass die individuellen Ausprägungen im Gehirn des Menschen so viel Energie dafür verbrauchen, um ihre eigentliche Unterschiedlichkeit zu verbergen bzw. diese im alltäglichen Bewusstsein des Menschen soweit zu verschleiern, damit die Lebensfähigkeit in jedem Augenblick gewährleistet bleibt.

Aber man kann natürlich auch fragen: Warum ist dieser Aufwand im Gehirn überhaupt notwendig?
Betrachtet man die Natur in ihrer [wenn auch nur scheinbaren] Perfektion des Zusammenspiels, dann würde man doch erwarten, dass auch der Mensch sein Gehirn harmonisch und im Einklang zu seinen Potenzialen unterstützt.
Allerdings scheinen die externen Einflussfaktoren unserer überwiegend rational und technisch geprägten Gegenwart die eigentliche Natur und damit die dem Menschen innewohnenden Anlagen so stark herauszufordern, dass dadurch das Gehirn in eine Art Machtkampf der Hemisphären geführt wird.

Grundsätzlich wirkt es so, als würden die beschriebenen Anlagen von der Natur durchaus förderlich gemeint gewesen sein. Jedes Tier ist in der Natur, solange es nicht am Ende der Nahrungskette steht, gefordert, dass es zum einen sehr konzentriert und fokussiert nach Nahrung Ausschau hält oder sich um Details einer Behausung kümmert. Auf der anderen Seite ist die permanente Wachsamkeit gefordert, da in jedem Augenblick Gefahr lauern könnte. McGilchrist schreibt bei einem Beispiel zu Vögeln: Sie benutzen ihre linke Hirnhälfte für eng fokussierte Aufmerksamkeit auf bereits bekannte Dinge, während sie ihre rechte Hirnhälfte wachsam halten für alles [neue], was da kommen mag.

Diese Beobachtungen, man kann sie auch weitgehend Spekulationen [2] nennen, werden nun hirnphysiologisch von McGilchrist in einen Zusammenhang mit der kulturellen bzw. gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahrtausende, insbesondere der letzten zwei-, dreihundert Jahre gebracht.

In seinem 2009 erschienen Buch The Master and his Emissary (Der Herr und sein Gesandter) vertritt er die relativ radikale These, dass sich die beiden Hirnhälften des Menschen im Verlauf der Geschichte nicht nur verändert hätten, sondern dass es im Prinzip eine dominante Seite gab, und zwar die rechte Hirnhälfte, die sich jedoch im Verlauf der Zeit mehr oder weniger zurückzog und der anderen (linken Seite) den grösseren Teil der Arbeit überliess.
Zuerst noch freiwillig, doch die linke Hirnhälfte vergass immer mehr, wer ihr eigentlicher Herr war und hält sich inzwischen selbst für diesen [Herren]. 

Dieser Gedanke in Form einer Parabel [2] ist nicht nur ein starkes Narrativ und hat seinen Reiz in Bezug auf ein tieferes Verständnis zum menschlichen Gehirn, es bietet auch die systemische Perspektive in der Frage, wie diese Entwicklung im Kontext unserer globalen Entwicklung zu verstehen ist? Akzeptabler vielleicht:
Wie diese Entwicklung verstanden werden könnte?

Man könnte mit Iain McGilchrist auch fragen, in welchem Wirkungsgeflecht sich eine kulturelle und soziale Epoche [2] und die Auswirkungen auf das menschliche Gehirn in Relation zu der jeweiligen Zeit verhält?

Iain McGilchrist bietet plakative Beispiele, wenn er sagt, die linke Gehirnhälfte hätte die Menschheit in die Dekadenz und ins dunkle Mittelalter gestürzt oder in neuerer Zeitrechnung auch in die Finanzkrise. 

So verführerisch die Beispiele von McGilchrist als Narrativ auch sind, die Synchonizität der äusseren und inneren Veränderungen als zwingende Logik zu verstehen, damit sollte man aus meiner Sicht doch etwas vorsichtig sein. Zumindest in Bezug auf die zwingende Dimension der These.

Letztlich ist es ja auch die banale Frage nach der Henne und dem Ei und damit: Was war zuerst da, was war der Auslöser? 

Es ist, wie gesagt, verführerisch, die individuelle Realität mit all den verbundenen existenziellen Problemen auf die jeweilige grössere äussere Realität zu externalisieren. Damit öffnet man auch die Türe zu einer Art des Pan-Determinismus, die den einzelnen Menschen von seiner Verantwortung freispricht, da die äusseren Mächte eben zu stark wären. Und im Grunde nimmt man dem einzelnen Individuum dadurch auch die Chance der Selbstbestimmung, der Souveränität und damit letztlich die freie Entscheidung über das eigene Leben. 

Dieses deterministische Muster, ohne die damit verbundenen Implikationen direkt vergleichen zu wollen, werden auch von den unterschiedlichen Religionen seit Jahrtausenden verwandt oder mindestens als Erklärung für das individuelle Schicksal jedes Einzelnen angeboten. 

René Decartes, 15961650, der mit seinen Ausführungen zu Res cogitans, also die denkende Sache und damit die Welt der geistigen Erscheinungen meinte,sowie die Res extensa und damitdie räumlich ausgedehnte Sache bzw. die Welt der körperlichen Erscheinungen meinte, kam diesem Gedanken bzw. den Thesen von Iain McGilchrist in seiner Zeit im 17.- Jahrhundert auch schon auf die Schliche. 

Letztlich konnte er aber das Spannungsfeld beider Perspektiven auch nicht auflösen und hat sich damit abgefunden, dass manches einfach hingenommen werden muss, es in der Sache selbst angelegt ist und damit als gegeben zu betrachten wäre. 

Es ist aus meiner Sicht schlichtweg die falsche Frage, da der Versuch zur Isolierung einer Seite, nach dem Motto wer ist Schuld bzw. verantwortlich, in sich schon auf eine immer unbefriedigende Fährte führt. 

Möglicherweise ist exakt die Suche nach der Exaktheit einer Position das Problem. Man könnte auch provokativ vermuten, dass genau die [wissenschaftliche] Suche nach einer Eindeutigkeit in dieser Frage, einer Art messbaren Beleg, genau der Beweis ist, dass wir in einer linkshemisphärisch dominierten Epoche leben. Und damit wäre sicher auch Iain McGilchrist wieder zufrieden. 

Ich denke jedoch, gerade die Nichtbeantwortung dieser Frage weisst in eine sinnvollere Richtung. Möglicherweise geht es eben gerade nicht um eine machtorientierte Frage, eine Perspektive, die nur die Logik der Hierarchie zulässt, sondern, frei interpretiert nach dem Ansatz von Marvin Minsky, 19272016, um eine heterarchische Struktur, die, je nach der Situation, sowohl eine hierarchische Logik, wie auch die komplette Offenheit jeder anderen und damit auch jede neue Ordnung zulässt.

Die hier formulierten Gedanken starteten mit der Überschrift Inselbegabung und damit der Frage, wie es sein kann, dass Menschen zu extremen Leistungen fähig sind, die mit der Logik der alltäglichen Existenz nicht erklärbar ist. 

Ich verbinde dies vor allem mit der Frage, welche Potenziale im Menschen nicht zur Entfaltung kommen können und warum dies so ist? Welche Hindernisse, äussere oder innere, führen zu einer Verengung der Möglichkeiten, mit denen Menschen lernen, ihre Lernfähigkeit zunehmend verlieren oder generell sich mit Gewohnheiten zufriedengeben und damit auch den Mut zur Veränderung?

Ich werde diese Frage hier sicher nicht beantworten können. Könnte ich dies, würde ich mir vermutlich selbst widersprechen. Ich vermute, dass dafür nur Annäherungen an eine bessere Erkenntnis möglich sind. 

Aber ich bin davon überzeugt, jedes Potenzial auf diesem Planeten und damit auch das menschliche folgt nicht der einen Regel und kann daher auch nicht mit einem Plan entwickelt werden. 

Vielmehr ist vermutlich genau die Komplexität der Einflussfaktoren schlicht zu hoch, um diese in der einen Einsicht (und damit Verständnis) zu fixieren. Denn es sind die permanenten Veränderungen im Fluss der Zeit, die dieser einen Antwort im Wege stehen. 

Überzeugt bin ich aber davon, dass es im Rahmen der generellen Gegebenheiten immer darum geht, die Einzigartigkeit jeder einzelnen Existenz zu akzeptieren. Am Ende hängt das Potenzial jedes Menschen und damit die individuelle Entwicklung immer an der Bereitschaft, vieles für eine neue, auch eine extrem andere Erfahrung aufzugeben.

Menschen, die mit einer Inselbegabung geboren werden oder diese nach einem Unfall oder einer Krankheit erleben bzw. erleiden müssen, haben diese Freiwilligkeit sicher nicht, warum der freie Wille hier in besonderer Weise betrachtet werden sollte. 

Und damit verbunden ist vermutlich auch die Frage nach dem besten Umfeld, damit sich etwas überhaupt erst entwickeln kann. 

Die Grössenordnung von Komplexität, die ich zum Schluss meiner Gedanken an mehreren Stellen genannt habe, lässt sich gut mit einem Zitat von Arthur Schopenhauer, 17881860, auf den Punkt bringen: 

Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.

Arthur Schopenhauer

Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2020

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