NICHTS?

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Was ist, wenn nichts ist? Kann es sein, dass wir wirklich nichts vergessen können? Auch wenn wir uns nie wieder bewusst daran erinnern.

Dieser Text versucht in der Form der Allegorie bzw. in einem Narrativ ein Thema zu illustrieren, das mich schon sehr lange beschäftigt: Wie entstehen prägende Einflüsse und damit auch die Erinnerung? Wie gehen wir mit Erinnerung um und wie passt dies generell zu dem, was wir Wahrnehmung nennen? Wie passt Wahrnehmung in unserer Erinnerung zu dem Begriff Wahrheit und warum kann es in der Folge die Wahrheit als Position einer Deutungshoheit vermutlich nicht geben? Vor allem aber beschäftigt sich der Text mit der Frage, ob und wie wir etwas aus unserer Erinnerung löschen können und warum wir das vermutlich nicht können? Auch wenn wir uns nie wieder bewusst daran erinnern. Es lebt irgendwie in uns weiter.

Man sieht oft etwas hundert mal, tausend mal, ehe man es zum allerersten mal wirklich sieht.

Christian Morgenstern, 1871 – 1914, deutscher Dichter, Schriftsteller und Übersetzer

Stellen sie sich vor, es gibt kein Licht, es ist vollkommen dunkel, sie sehen nichts, sie hören nichts. Sie sitzen an einem Ihnen fremden Ort, fühlen einen Stuhl unter sich, sie tasten diesen Stuhl mit ihren Händen, fühlen, dass er wahrscheinlich aus Holz ist. 

Sie bewegen sich, der Stuhl, die Beine des Stuhls – sind es vier? – reibt unter ihnen über den Boden. Sie hören das Geräusch und denken darüber nach, wie gross der Raum sein muss in dem der Stuhl steht auf dem sie sitzen. 

Sie denken darüber nach, aus welchem Material der Boden ist, sein muss, da nur dieses Geräusch zu diesem Material passt. Sie haben keine Erinnerung an einen anderen Boden aus Stein, aber es ist klar, dass es nur so sein kann. Das Wissen ist irgendwie in ihnen. Verbunden mit anderem Wissen über Böden aus Stein. 

Sie riechen nur sich selbst. Sie schmecken nur sich selbst. Sie öffnen den Mund und machen ein Geräusch, sie hören ihre Stimme und ihre Stimme klingt fremd. Sie klingt, als gehöre sie nicht zu ihnen. Warum? Sie bemerken, dass ihre Stimme keinen Grund für sich selbst findet, keinen Bezug, keinen Halt hat an diesem Ort, der kein Ort für sie ist, da sie hier keine Geschichte haben ausser der, die gerade entsteht und den Geschichten, die sie mitgebracht haben. 

Sie denken darüber nach, welchen Wert ihre Geschichte, welchen Wert ihre Geschichten an diesem Ort haben.  Sie denken nach über den Wert ihrer Erinnerung und das, was sie alles nicht erinnern, da es hier keinen Wert für sie hat. Sie denken, es denkt ihn ihnen, sie atmen, sie werden beatmet, denn darüber denken sie nicht nach. Aber jetzt.

Die Wahrscheinlichkeit, in einer solchen Situation panisch zu werden ist nicht gering. 

Stellen sie sich vor sie werden nicht panisch. 

Eine Stimme beginnt zu ihnen zu sprechen und bittet sie, sich einen Ball vorzustellen. Sie stellen sich einen Ball vor. Dieser Ball ist orange, mit blauen Punkten. Sie sehen den Ball irgendwie vor ihren offenen Augen, mit denen sie doch eigentlich nur die Dunkelheit sehen. Sie sehen den Ball in einem Garten, am Rand eines Hauses, im Kofferraum eines Autos – sie erinnern ein Auto, legen den Gedanken wieder zur Seite (wo und wohin ist die Seite?). 

Sie sehen den Ball in ihren und in anderen Händen, sie erinnern sich an die Nachbarschaft der Orte des Balles, an die Nachbarschaft zu diesen Nachbarschaften, Geschichten entstehen in ihren Erinnerungen, werden durch sie ausgelöst und lösen sich wieder in diesen Erinnerungen auf. Sie glauben dem was sie erinnern. 

Sie glauben sich selbst. Sie denken darüber nach, ob beides dasselbe ist.

Sie denken an einen Ball, stellen sich diesen Ball vor, wie er in einem grossen Bogen durch die Luft fliegt, wie er zurück fliegt, zu ihnen. Sie sehen ihre Hände in der Luft, wie sie den Ball fangen, wie der Ball auch irgendwie sie fängt, sich in einer Zeit die zurück liegt verfängt und doch durch ihre Erinnerung auch Teil ihrer aktuellen Zeit ist und wahrscheinlich auch ihrer zukünftigen Zeiten).

Der Ball ist Teil einer Geschichte, einer und ihrer Erinnerung (Er-Innerung). Er öffnet eine Erinnerung und mit dem Flug dieses Balles erinnern Sie sich an einen Ort, an andere Menschen, an Situationen einer anderen Zeit, die nur vergangen sein kann. Eine Geschichte in anderen Geschichten, die wieder in anderen Geschichten entsteht, entstehen kann, weil sie in diesen schon lag. 

Geschichten, die in dieser Form nur von ihnen und genau in dieser Weise erinnert wird und nur einmal, da jedes erinnern das wieder erinnern verändert. So denken Sie. Aber sicher sind sie nicht.

Wo kommen diese Bilder her, warum in diesem Moment im Licht dieser Dunkelheit und warum betrachten wir sie als Bilder, wenn wir sie doch nicht wirklich sehen können – und was meinen wir mit wirklich? – sondern nur in uns entdecken, unser Kopf, unser wir wissen nicht was ES ist, die Bilder aufdeckt, sie von dem befreit, was sie bedeckte, was über ihnen lag, da die neuen Geschichtenbilder, die Bilder der neuen Geschichten im Werden von Vergangenheit wie Sand von oben rieseln (Ent-decken). 

Während sie dies denken, sie mit ihren Gedanken vom Boden die Fundstücke ihrer Vergangenheit einsammeln, richten sich auch ihre Augen leicht nach unten. So als würden sie sich tatsächlich durch ihren inneren Raum bewegen und jeder Schritt ihrer Erinnerung bräuchte die Versicherung, dass sie der Boden trägt, dass sie das Richtige aufheben (auf-heben) und mitnehmen, bevor sie es wieder fallen lassen und die zurück gelassene Erde ihres Lebens immer neu befruchten. So denken sie und sie fragen sich: 

Für welches Bild eines Balles entscheide ich mich? Und warum denke ich bei einem Ball an etwas rundes?

In diesem Augenblick fordert die Stimme sie auf, nicht mehr an diesen Ball zu denken, sich diesen Ball nicht mehr vorzustellen. Mehr noch, die Stimme fordert sie auf, sich diesen Ball als ‚niemals vorgestellt‘ vorzustellen. 

Das gelingt ihnen nicht. 

Sie können diesen Ball nicht aus Ihrem Kopf löschen, auch, da er ja schon in ihrem Kopf war. Sie können diesen Ball nicht aus ihrem Kopf nehmen, so, als hätten sie nie daran gedacht, da dieser Ball in ihnen aufging, sich dieser Ball in ihnen auflöste, sich mit ihnen verband, sie auf eine Weise dieser Ball sind. Sie die Welt auch als Ball, also mit diesem, auch aus diesem heraus sehen. Denn der Ball war ein Teil ihres Werdens.

Was sonst?

Stellen sie sich vor sie wachen auf. 

Sie wachen auf und sie sitzen an einem Ort an dem es kein Licht gibt, es ist vollkommen dunkel…


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2006

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