Jaron Lanier hat es auf den Punkt gebracht: You are the product! Dem ist wenig hinzuzufügen.
Menschen haben schon immer ihr Leben damit abgesichert, eine Form der berechnenden Einschätzung darüber vorzunehmen, was passieren, was eine Gefahr bedeuten, was gefährlich für die eigene Existenz werden könnte. Die Sinne [2] des menschlichen Körpers sind, vor diesem Hintergrund, permanente Sensoren in Richtung der äusseren Welt jedes Individuums.
Die Vermessung des Menschen auf Grundlage der Nutzung digitaler Medien und die dadurch ermittelbaren Daten sind heute der wichtigste Rohstoff global agierender Unternehmen. Verglichen mit allen anderen Rohstoffen, die sich Menschen in ihrer Geschichte erschlossen haben, ist der hier gewonnene Wirkungsgrad und damit der ökonomische Effekt für diese Unternehmen ohne jeden historischen Vergleich.
Würde man einen Vergleich suchen, wären selbst Beispiele wie die Erfindung des Telefons oder des Automobils ein gewisser, wenn auch nur schwacher Vergleich. Warum? Das soll in der Folge näher betrachtet werden.
Ich bin davon überzeugt, dass eine grundsätzliche Sicht auf das Wesen eines Phänomens immer hilfreich ist. Auf welcher Grundlage ist eine aktuelle Entwicklung zu verstehen? Was sind die Wurzeln dessen, warum Menschen ihr Leben in einer bestimmten Weise gestalten? Welche begleitenden Effekte und damit auch kollektiv-intrinsische Potenziale werden möglich? Vor allem aber: Welche Überlebensstrategien und archaischen Prinzipien spielen dabei eine wesentliche Rolle? Das wollen wir zunächst betrachten.
Stellen wir uns einen typischen Augenblick vor, als ein Mensch, sagen wir vor vielleicht 30.000 Jahren, seine Sippe zum Sammeln von Beeren und Wurzeln verlassen hat. Er ging früh am Morgen aufrecht durch eine buschige Landschaft in Richtung des Waldes, der, durch einen schmalen aber tiefen Fluss getrennt, den besten Schatten für jene Nahrung bot, die er für diesen Tag als Beitrag zum Überleben seiner Sippe geplant hatte.
Der Plan war ihm nicht in dem Sinne bewusst, wie wir heute unsere Tage organisieren, aber es war doch eine Art Erwartung, welche auf jener Erfahrung basierte, die er in seinem Leben bis zu diesem Tag gemacht hat. Da jede dieser erfolgreichen Erfahrungen natürlich Grund genug dafür war, diesen Erfolg wiederholen zu wollen, schuf er eine Form der Gewohnheit aus seinem Verhalten. So verliess er die Siedlung, gebaut aus Lehm und Astwerk im Schutz einer Höhle, an diesem Morgen in die gleiche Richtung wie am Tag davor. Er kannte den Weg und er erkannte dabei auch seine eigenen Spuren der Tage davor, an denen er diesen Weg gegangen war. Das gab ihm ein Gefühl von Schutz und er konnte im Vertrauen auf diese vermeintliche Sicherheit seinen Blick weiter über die Landschaft schweifen lassen. Zum einen, um eine mögliche Gefahr früh zu erkennen, zum anderen, da er einfach neugierig war und eine ihm innewohnende Lust verspürte, einfach so über die Landschaft zu blicken. Es gefiel ihm, es machte ihm Freude, wenn er etwas wahrnahm, was er am Tag zuvor noch nicht gesehen hatte.
So bewegte sich dieser Mensch in einer Art Balance zwischen der Erfahrung, den damit verbundenen Mustern, die er kannte und welche er mit den Mustern des Tages und der Tage davor unterbewusst ständig verglich und seiner Bereitschaft, etwas Neues zu sehen, etwas Neues wahrzunehmen und dies hinsichtlich irgendeines Potenzials zu überprüfen, ob sich aus diesem Neuen etwas Wertvolles und damit Gewinnbringendes für sein Leben und das Leben seiner Sippe ergeben könnte.
Die tägliche Beschaffung von Nahrung war dabei die wichtigste Grundlage für das Überleben der Sippe, vor allem für die Jüngsten, die lange die Obhut der Älteren brauchten und trotzdem früh den Gefahren der Natur oder Krankheiten zum Opfer fielen. Daher war die Fortpflanzung, die sexuelle Aktivität für möglichst viele Nachkommen eine weitere Überlebensstrategie. Nur ein möglichst grosser Clan konnte als Gruppe das Überleben der Einzelnen langfristig sichern.
Dieser frühe Mensch bewegte sich mit ein paar Lederlappen um seine Füsse in Richtung des Waldes, in dem er saftige Beeren und kraftspendende Wurzeln holen wollte. Da er diese auch in den Tagen davor dort fand und damit erfolgreich war, war seine Erwartung von Beginn an positiv. Er sah sich bereits gegen Mittag des Tages mit reichem Fund in seine Siedlung zurückkehren. Sein Körper bewegte sich sicher durch das dichte Gestrüpp. Er fühlte den noch taufeuchten Untergrund an seinen Füssen. An der süssen Fäulnis in der Luft roch er ein verwesendes Tier in der Nähe eines kleinen Felsmassivs und entschied sich daher, einen neuen Weg, etwas unterhalb der Felsen, zu nehmen, die er am Tag davor überstiegen hatte. Das kleine Felsmassiv war ein wichtiger Ort zur Orientierung.
Er kannte diesen Ort, nutze diesen für einen Blick zurück, zu einer Art Absicherung des Weges und des Ortes, den er gegangen war und wohin er am späteren Tag wieder zurück wollte. Auf der anderen Seite war der Fels eine Möglichkeit zur Übersicht des Weges, der vor ihm lag. Er konnte dabei die Situation abschätzen, in die er sich kurz danach begeben würde. Sein Blick suchte in alle Richtungen nach einer möglichen Gefahr und er nahm dabei gleichzeitig sein Ziel jenseits des kleinen Flusses in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit.
Heute nahm er also einen neuen Weg auf der unteren Seite des Felsmassivs. Dieser Weg lag im Schatten. Der Boden war feuchter, die Luft kühler. Der Schatten des aus dieser neuen Position hohen Felsen nahm jedoch auch dem Wind die Kraft und es war fast windstill, als er das Massiv schon hinter sich glaubte und er die helle Lichtung erkannte, die vor dem Fluss lag. Sein Plan war klar: Wie an den Tagen zuvor, würde er diesen Fluss wieder mit wenigen, aber kraftvollen Schwimmzügen überqueren. Es waren noch wenige Schritte, seine Vorstellung dessen, was er gleich tun wollte, nahm seine ganze Aufmerksamkeit ein, als er den Sprung des Tieres hinter sich hörte.
Als über die vielen Jahrtausende kulturell und sozial domestizierte Wesen mussten die Sinne des Menschen in all diesen Zeiten viele Veränderungen der jeweiligen Umwelt meistern. Waren die Körpersinne zu Beginn der menschlichen Entwicklung noch die zentralen Impulsgeber für eine normale Entscheidung des jeweiligen Alltags, der zu dieser Zeit überwiegend vom Überleben geprägt war, so scheint die Gewährleistung von Sicherheit im Alltag heute nicht mehr die vordergründige Aufgabe unserer Körpersinne zu sein.
Wir bewegen uns durch die Welt im Zusammenhang mit den Entwicklungen, die das menschliche Leben bis heute erfolgreich werden liessen. Aber jede menschliche Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Spekulation über die Absicherung der jeweiligen Gegenwart und dessen, was damit bis heute erreicht wurde, sowie dem kalkulierten Risiko, was in der Zukunft darüber hinaus erreichbar sein könnte.
Jede menschliche Entwicklung ist damit immer auch eine Spekulation darüber, ob das Neue seinen Beitrag leisten kann und damit zu einem positiven Delta führt. Dieses positive Delta, im Sinne einer Verbesserung des zukünftigen Lebens, ist schon deshalb so wichtig, weil der Mensch aus gutem Grund zur Gewohnheit neigt: Zu einem Verhalten, das sich vor allem an dem orientiert, was bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich war. Moralisch betrachtet könnte man diese Gewohnheiten auch als Faulheit bezeichnen. Letztlich aber ist die Evolution gesteuert von Motiven, jede Moral verblasst vor dem Erfolg der nächsten evolutionären Stufe, die in der Natur möglich ist. Somit sind Gewohnheiten, und damit Strukturen und Muster, der Grundalgorithmus von Leben, von jeder Spezies, die sich auf diesem Planeten über einen gewissen Zeitraum behaupten konnte.
Das Problem liegt nun darin, dass jede Gewohnheit, die natürlich als Ertrag, als Ergebnis einer positiven Erfahrung wahrgenommen wird, in der Folge zu einem Muster mutiert, welches in Form von permanenter Wiederholung zu einer Verdrängung des möglichen Neuen führt.
Anders ausgedrückt: Je mehr bekannt, erfahren und geprüft wurde, desto weniger wird der Mensch mit dem radikal Neuen konfrontiert und muss sich diesem Neuen mit seiner Lernfähigkeit stellen. Unabhängig von der Lebenspanne eines Menschen kann man sagen, dass mit der Reduktion neuer Einflussfaktoren im Gesamtbewusstsein des Menschen dessen Lernfähigkeit sinkt. Im Umkehrschluss folgt, dass durch eine Vermehrung und damit ein Zulassen neuer Einflussfaktoren die Lernfähigkeit auf einem höheren Level erhalten bleibt bzw. sich relativ kongruent dazu entwickelt. Der Mensch erhält sich also seine Lernfähigkeit mit der Bereitschaft, man könnte auch sagen, seinem Mut zur permanent neuen Erfahrung.
Wenn wir Lernfähigkeit mit der Fähigkeit übersetzen, flexibel auf Veränderungen vom Gewohnten und damit vom Normierten reagieren zu können, dann reduziert sich eben diese Fähigkeit dann, wenn die Notwendigkeit, sich etwas Neuem stellen zu müssen, geringer wird.
In unserer gegenwärtigen Zivilisation, gleichwohl der Anspruch an lebenslangem Lernen im Prinzip zur kollektiven Überzeugung wurde, wird die Übertragung alltäglicher Aufgaben an externalisierte Systeme die Normalität. In den Jahrzehnten steigender Komplexität von Produkten und Medien, war dies vorwiegend ein Effekt, der den menschlichen Körper rein physikalisch betraf: Die körperlichen Fähigkeiten wurden über technische Systeme optimiert. Dadurch kann der Mensch schärfer sehen, wenn seine Augen schwächer werden. Er kann schwere Fahrzeuge bremsen, bevor sie gegen eine Wand fahren. Er kann ein Gerät anschalten, ohne aufstehen zu müssen. Oder in acht Stunden über den Atlantik fliegen. Eine Reise, die sonst das halbe – oder das ganze – Leben kosten würde.
Alexander von Humboldt, am 6. Mai 1859 in Berlin gestorben, hat in seinem Leben über sieben Jahrzehnte Reisen zu Orten unternommen, welche immer mit dem Ziel verbunden waren, etwas Neues zu erfahren. Es ging ihm dabei stets darum, eine Erkenntnis zu erlangen, diese über Ähnlichkeiten mit dem, was er schon davor verstand, zu immer komplexeren Mustern werden zu lassen, und ihm damit erlaubten, das für sich Neue leichter in einen grösseren Zusammenhang einordnen zu können. Das Mehr an Erkenntnis führte zu einem Weniger an Aufwand, um das jeweils Neue und damit die Gesamtheit seiner Betrachtungen zu verstehen.
Er hat jede Erfahrung vernetzt, hat Kontexte hergestellt, um von dieser stetig höheren und damit kompetenteren Position aus immer exakter und schneller Rückschlüsse für das jeweils Andere, das Neue ziehen zu können. Er entwickelte dabei eine Fähigkeit zur Kausalität und damit zur Anwendung komplexer Kontexte. Man könnte diese auch als komplexe Muster bezeichnen und vor diesem Hintergrund unterschieden sich diese wenig von dem frühen Morgen des Menschen vor 30.000 Jahren, der auf der Suche nach Beeren und Wurzeln war.
Kontexte sind wie die Synapsen in jedem Gehirn, Verfestigungen gemachter Erfahrungen, getrieben und unterstützt durch unsere Instinkte. Jedes Gehirn, verschieden durch seine Komplexität und seine Fähigkeit, diese Verbindungen gleichzeitig zu nutzen, wendet diese synaptischen Verbindungen in jedem Augenblick kausal an: Es gilt, ein Ziel zu ermöglichen, zu erreichen; wissend, dass dieses Ziel schon im Augenblick seiner Erreichung im Fluss der Zeit von einem neuen Ziel abgelöst wird. Das ist bei der Überquerung einer Strasse im Verkehr nicht anders als bei der Aufgabe oder dem Ziel, in vielleicht dreissig Jahren eine Siedlung auf dem Mars möglich zu machen.
Alexander von Humboldt war als Kind, zwei Jahre jünger als sein Bruder Wilhelm, eher lernunwillig und schien seinen Erziehern und Lehrern eher als unfähiger Kopf. Auffällig war das Interesse des jungen Alexanders, Insekten, Steine und Pflanzen zu sammeln, diese anfassen zu wollen und sich mit diesen zu befassen. Vor allem aber hatte er eine Leidenschaft, den Dingen ein eigenes Bild geben zu wollen. Sein Talent zum Zeichnen führte ihn früh zu einer Möglichkeit, nicht nur ein Bild von der Welt zu machen, indem er diese Welt in Form einer Zeichnung zu seiner eigenen machte, diese mehr oder weniger in sich aufnahm.
Es war vor allem der Beginn einer nahezu unendlichen Sammlung dessen, was ihn interessierte, eine Form der Archivierung und Katalogisierung seiner Fundstücke. Die Nachbarschaft dieser Fundstücke und damit weiterer Fundstücke waren dabei von besonderer Bedeutung, da diese Nachbarschaften auf einer Metaebene die einzelnen Objekte auf natürliche Weise miteinander verbanden. Alexander von Humboldt entwickelte Listen mit, heute würden wir sagen, Metadaten über all das, was er fand. Und diese Daten folgten einer zwingenden Logik in Form von Positionen, Dimensionen, Proportionen, Kombinationen, Relationen, Repetitionen, Penetrationen, Perpetuierung, etc..
Vor allem aber beschrieb er unaufhörlich, was er fand. Ob ihm dieses höhere Prinzip in seiner ganzen Systematik zu seiner Zeit voll bewusst war, kann hier natürlich nicht beurteilt werden. Was aber deutlich wird, ist eine generalistische Betrachtung der Welt sowie seine Fähigkeit, eine Art Algorithmus zu entwickeln, um diese erklärbar zu machen. Darauf aufbauend war es Alexander von Humboldt in seinen Schriften auch möglich, weitgehende Spekulationen, man könnte auch sagen die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, vorzunehmen, welche teilweise bis heute Bestand haben.
Er war auf der Suche nach Erkenntnis durch das explorative Machen, durch die Konfrontation mit dem Neuen und dem permanenten Abwägen nach einem Ertrag, einem positiven Delta. Darin lag das Motiv seiner Motivation und damit erklärt sich jede Bereitschaft des Menschen, sich einer Neuerung hinzugeben. Abstrakt gesagt muss jede Neuerung die Bereitschaft des Menschen provozieren, eine Gewohnheit zu ändern, indem es diese verbessert bzw. wenigstens die Illusion einer Verbesserung erzeugt. Idealerweise muss jede neue Entwicklung das Potenzial für die nachfolgende und idealerweise bessere Weiterentwicklung in sich tragen. Man könnte auch sagen:
Eine gute Idee macht eine noch bessere Idee im Kern schon deutlich.
So wie bei dem oben beschriebenen Beispiel eines Menschen auf der Suche nach Nahrung vor langer Zeit und seinem Vertrauen auf äussere Gegebenheiten, wie den damit verbundenen Mustern, so vertrauen Menschen auch heute auf äussere Hilfsmittel, in welcher Form auch immer. Jedes Mittel ist dabei immer auch eine Prothese zur Erweiterung, zur Vergrösserung, zur Optimierung des individuellen menschlichen Potenzials und damit seines Körpers, seines Geistes und immer mehr auch seiner Emotionen.
Man könnte allerdings auch provokativ fragen:
Externalisieren wir unser Leben in Hilfsmittel zur Beweisführung und Vergegenwärtigung der eigenen Existenz?
Am 04. September 1998 wurde in Mountain View das Unternehmen Google LLC von Larry Page und Sergey Brin gegründet. Die Idee des Unternehmens war im Prinzip einfach: Das Ziel war es, eine Suchmaschine mit einem Algorithmus zu entwickeln, die alle bis dahin vorhandenen Suchmaschinen ersetzen sollte. Das Problem dabei war, dass es schon viele andere Suchmaschinen gab. Es mussten also Anreize geschaffen werden, sodass Menschen eine gewohnte, in diesem Fall digitale, Umgebung verlassen und eine andere neue akzeptierten. Das ist im Prinzip immer der Kern einer Anwendung gelernter Muster und ihrer Veränderung, wie sie hier schon mehrfach beschrieben wurde.
Das Prinzip, das Google zum Erfolg führte, wie auch einige wenige Unternehmen davor (wenn auch nicht in dieser Dimension), basiert auf einem Effekt, der mit der Logik eines Schwarms zu tun hat. Je grösser ein Schwarm in seiner Kombination wirkt, desto stärker ist sein Potenzial zur Verdrängung seiner Umwelt. Man könnte auch sagen, dass die Quantität in der Phase der Verdrängung in einem idealen Verhältnis zur Qualität stehen muss, damit final der Erfolg realisierbar ist.
Ein Schwarm von Fischen muss gewissen Gesetzen folgen, damit das Attribut „Schwarm“ [2] zutrifft. Craig Reynolds, amerikanischer Experte auf dem Gebiet künstlichen Lebens, hat 1986 als Modell zur Erklärung von Computersimulationen drei Regeln von Schwärmen definiert:
Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst (Kohäsion).
Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt (Separation).
Bewege dich in etwa dieselbe Richtung wie deine Nachbarn (Alignment).
Das klingt für einen Moment kompliziert. Nach einem ähnlichen Prinzip bewegen sich aber Menschen auch auf ihrem Weg zum Bahnhof. Nach einem ähnlichen Prinzip entstand die vermutlich grösste Ameisenkolonie der Welt, die sich über 5400 Kilometer entlang der Küste von der italienischen Riviera bis in den Nordwesten Spaniens erstreckt. Und ganz ähnlich hat sich auch Google auf den Weg gemacht, alles, was auf dieser Welt physikalisch bzw. in irgendeiner Weise logisch beschreibbar ist (wie das Verhalten im Schwarm), digital zu erfassen und über einen Algorithmus erreichbar zu machen. Der Wert des Einzelnen steigert sich durch die geometrische Proportion des Gesamten.
Unidirektionale Medien machen dies schon deutlich. Ein Abspielgerät für Musik hat das Prinzip von Musik im Kern verändert. Die Musik selbst wurde von der Notwendigkeit ihrer Produktion abgekoppelt. Als zwei und mehr Abspielgeräte zur Verfügung standen, hat sich das Potential der Musik selbst radikal verändert. Es entstand ein Markt für Musik, die Musik hat sich in vielfältige Richtungen verändert, da plötzlich deutlich mehr Menschen die Möglichkeit hatten, individuelle Musik jeder Zeit hören zu können.
Mit der Erfindung des mp3-Kompressionsverfahrens (die Entwicklung begann 1982 am Fraunhofer Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen unter der Leitung von Karlheinz Brandenburg) gab es die Möglichkeit, Musik nicht nur von einer Quelle, einem Anbieter zu erhalten, sondern dieser Anwender konnte diese auch verschicken. Die Möglichkeit wurde jedoch nicht innerhalb eines bidirektionalen Mediums angeboten, wie man dies bei einem Telefon kennt: Es gibt zwei Richtungen, in die man seine Botschaft vermitteln kann.
Die exponentielle Verbreitung mit gravierenden Folgen für die Musikindustrie entstand Anfang der 1990er Jahre in Zusammenhang mit den Technologien und Protokollen rund um das Internet, vor allem jedoch mit Musikportalen wie Napster. Die Bidirektionalität wurde übersprungen, das neue war sofort ein polydirektionales Medium. Es gab also nicht nur eine Quelle und damit die Möglichkeit, mit dieser Quelle aktiv in Kontakt zu treten. Denken wir uns 100 Musikliebhaber, welche alle ein Medium nutzten, das in alle Richtungen offen war (eben das Internet), dann führte dieser Nutzen zu einem geometrischer Effekt, eben die Zahl von 10.000 Möglichkeiten Musik zu tauschen.
Die Effekte sind in der historischen Betrachtung schnell erzählt. Manche Unternehmen haben dieses Potenzial zum richtigen Zeitpunkt erkannt und genutzt. Apple hat die Idee und das Angebot von Napster durch die kostenlose Bereitstellung einer Musikdatenbank für jeden Musikliebhaber, das damalige iTunes, in kurzer Zeit zerstört. Darauf aufbauend entstand ein technisches Biotop aus Abspielgeräten (dem iPod), sowie der Konsequenz, dass die ganze Musikindustrie gezwungen war, diese digitalen Technologien zu akzeptieren und Musik über den iTunes Store zu verkaufen. Darauf wurde ein System mit weiteren Produkten und Services aufgebaut. Alles wurde mit einander verwoben und so aufeinander abgestimmt, dass es immer besser möglich war, den einzelnen Musikliebhaber permanent und gezielt zu erreichen. Die relative Komplexität dieser Geschichte soll eines deutlich machen:
Es geht um den Exponenten, der im Zusammenhang digitaler Technologien möglich wird.
Einer der Pioniere des Internets, Robert Metcalfe, hat im Jahr 1980 das nach ihm benannte Metcalfe‘s Law definiert. Es besagt im Prinzip, dass der Nutzen eines kommunikativen, heute vorwiegend digitalen Systems proportional zur Anzahl der einzelnen Verbindungen wächst, während die Kosten nur proportional zur Anzahl der Teilnehmer steigen. Nehmen wir das Beispiel der 100 Musikliebhaber, dann bedeutet dies, dass ein Netzwerk von Musikliebhabern viel wertvoller ist als das Erreichen von 100 einzelnen Musikliebhabern. Dieser Faktor ist im Kern das Geheimnis dessen, was man heute Plattform-Ökonomie nennt und warum Unternehmen, die sich diesem Geschäftsmodell gewidmet haben (setzt man deren Umsätze und die oft über Jahre aufsummierten monetären Verluste in Verhältnis), in der Regel bis zu 100 mal wertvoller an den Börsen dieser Welt gehandelt werden als traditionelle Unternehmen. An anderer Stelle unterscheide ich hier die Begriffe der Productive Economy im Vergleich mit der extrem erfolgreicheren Systemic Economy.
In der Folge will ich mich auf den Kern und das Anliegen dieses Textes konzentrieren. Um das Thema Human Data allerdings grundlegend zu verstehen, ist es wichtig, die hintergründigen Nebenschauplätze zu verstehen, um das Wesen des Themas, wie auch die Herausforderung, einordnen zu können.
Unsere Welt ist heute davon gekennzeichnet, dass wir den Dingen und unseren Handlungen einen externalisierten äusseren digitalen Ort geben. Wir überlassen einen grossen Teil unseres täglichen Lebens einem System. Die Revolution digitaler Potenziale begann in den 1980er Jahren mit dem Personal Computer. Später, Anfang der 1990er Jahre, folgte das digitale Bild. Und dann, wie die oben beschriebene Digitalisierung der Musik, gab es zum Ende des vergangenen Jahrhunderts mit dem globalen Anspruch von Google als zentrale Suchmaschine und dem Aufkommen der sozialen Netzwerke,v die heute von Facebook nahezu monopolistisch übernommen wurden, eine relevante Zäsur. Das Modell eines Senders und eines Empfängers, wie es zu Beginn des Internets noch die übliche Praxis war (also der Ansatz einer Website und die Möglichkeit, diese zu sehen und zu nutzen), wich dem Ansatz einer Plattform, an der mehr oder weniger jeder teilnehmen konnte. Man nannte diese erste Phase im Internet im Rückblick auch das Web 1.0.
Ich habe diese Zäsur in einem Vortrag, den ich 1998 vor den Vertretern einer Bank gehalten habe, als den Übergang von einem Bookmark zu einem Patchmark genannt. Dabei beschrieb ich die sichtbare Dynamik, dass das Monopol eines Internetauftritts (und der Möglichkeit, dieses mit einem Bookmark zu kennzeichnen) von einem Polypol abgelöst wurde. Das einzelne Individuum übernahm als Teil im Schwarm einer Social Media Plattform scheinbar die Kontrolle und die Unternehmen und Institutionen mussten versuchen, Teil dieser Welt zu werden. Nannte man diese Teile zur Jahrtausendwende noch zum Beispiel Widgets, so sind es heute vorwiegend Apps auf den unterschiedlichen, meist tragbaren digitalen Medien, welche wie Patches auf einer digitalen Patchmark-Decke von Menschen in ihrer virtuellen Parallelwelt organisiert werden. Diese Entwicklung wurde in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen immer auch das Web 2.0 genannt.
Der grundlegende Erfolg von Unternehmen – und das ist der Fokus unter dem Titel Human Data dieses Textes – liegt nun darin, dass die erfolgreichsten Vertreter (wie zum Beispiel Google oder Facebook, aber auch als Amazon oder Alibaba im Bereich der Logistik von Produkten) den Wert dessen erkannt haben, was jeder Mensch in der digitalen Welt hinterlässt: Daten. Wie oben postuliert, entstand damit der wertvollste Rohstoff unserer aktuellen globalen Ökonomie.
Wichtig an dieser Stelle sind die Kontaktpunkte, an denen diese Daten entstehen. Das sind die digitalen Medien, welche Menschen in ihrem Leben heute mehr oder weniger permanent nutzen. In einem anderen Text habe ich dies in Abgrenzung zu interaktiven Medien als Permaactivity bezeichnet. Der Zeitpunkt, an welchem Menschen einem Medium erlaubt haben, dass sie ort- und zeitunabhängig mit ihnen in Verbindung gebracht werden dürfen, ist die Zäsur zur Permaactivity. Auch wenn ein Smartphone oder ein Tablet ausgeschaltet ist, wartet das System wie ein wachsamer Hund im Hintergrund darauf, dass der Anwender in der digitalen Aura wieder auftaucht und damit wieder und weiter verfolgt werden kann. Wichtig dabei: Ein Medium ist immer ein Filter. Alles, was es aufnimmt, wird manipuliert, neutraler ausgedrückt: verändert. Damit ist jedes Medium ein Katalysator. Sein Output verändert zwingend und immer den Input.
Aus der Perspektive der Unternehmen, welche die Daten auswerten, bedeutet dies, dass die individuellen, digitalen Spuren (ähnlich einer Störung vom Gewohnten) ausgewertet werden. Der digitale Filter erlaubt Rückschlüsse über den Anwender und es werden jene Potenziale herausgefiltert, die als eine Art Manipulation beim einzelnen Individuum, als Käufer, als Interessent, als Partner etc. wirken sollen. Hätte der einzelne Anwender digitaler Medien die gleichen Werkzeuge zur Auswertung, so könnte er die Intention des Unternehmens (als Sender) erkennen. Aber diese Werkzeuge hat der Anwender nicht.
Der amerikanische Informatiker Andy Lippmann, ein Pionier im Bereich Human-Computer Interaction, hat als Grundlage für den Erfolg digitaler Systeme in den 1970er Jahren einige Grundregeln definiert:
Unterbrechbarkeit – ein System muss sich unterbrechen lassen.
Körnung – ein System braucht eine attraktive Summe von Optionen.
Elegantes Ausweichen – ein System muss Alternativen anbieten können.
Beschränkte Vorausschau – ein System muss eine anwenderorientierte Vorausschau anbieten.
Unendlichkeit – ein System muss gleichzeitig die Illusion von endlosen weiteren Möglichkeiten bieten.
Die sogenannte Plattformökonomie hat dieses Potenzial im Zusammenhang eines polypolen Netzwerks erkannt. Die Aktivität, die Mitwirkung des einzelnen Anwenders, wird auf der Plattform organisiert, kombiniert und raffiniert. Die Masse der Mitwirkenden wird zur Masse von Datenlieferanten, die kostenlos den Rohstoff durch das liefern, was sie sowieso tun: leben.
Der Alltag jedes Einzelnen bietet den Grundstoff für neue Angebote, welcher Art auch immer. Die Auswertung dieses permanenten Datenflusses ist ebenso erstaunlich, wie die Tatsache, dass man schon wenige Augenblicke, nachdem die Wahllokale in parlamentarischen Demokratien schliessen, recht genau den Gewinner feststellen kann. Es ist einfach Statistik, es ist Mathematik in einer Form, bei der der Ansatz von Echtzeit, wie er im Zusammenhang der Performanz von Datenleitungen seit ungefähr drei Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielt, heute eine neue Dimension erhält. Es geht nicht mehr um Echtzeit als das Angebot zum Zeitpunkt und am Ort des Bedürfnisses. Es geht heute vielmehr darum, dass dieses Bedürfnis dem System vor dem konkreten Bedarf statistisch, wenn auch spekulativ, ermittelt wird und entsprechende Angebote machen kann.
Man könnte auch sagen, dass mit dem Beginn der Computerisierung in der alltäglichen Welt das Prinzip des (verführerischen) UnDos oder in der Folge des (produktiven) ReDos zentraler Erfolgsfaktor wurde. Heute ist es das PreDo, also das digitale Vormachen, und damit die partielle Abnahme von menschlichen Entscheidungen, die digitale Systeme zunehmend in den Alltag der globalen Menschheit spülen. In dem Text zum Thema Systemic Economy spreche ich hier von einem verführerischen Angebot, vergleichbar mit dem Verhältnis von Eltern zu ihrem kleinen Kind, das sich, im Vertrauen aufgefangen zu werden, von der höheren Stufe einer Treppe einfach fallen lässt.
Einem Kind wird dieses kindliche Verhalten mit Leichtigkeit zugesprochen. Das Prinzip unterscheidet sich aber nur unwesentlich von der Naivität der Milliarden Menschen auf diesem Planeten, die wesentliche Themen ihres Lebens digitalen Helfern übertragen, welche zunehmend die empfänglichste und manipulierbarste Seite des Menschen verstehen und nutzen: die Emotionen und Instinkte des Homo Sapiens. Wie der Gang vor 30.000 Jahren auf der Suche nach Nahrung, bewegen wir uns durch das digitale Dickicht und verlassen uns auf unsere eingeschränkten, individuellen Fähigkeiten, während die Systeme von Google, Facebook, Amazon und anderen die Daten von Milliarden Menschen in Millisekunden ausrechnen und uns gegenüberstellen.
Polysensorische Systeme werden in Zukunft dieses Potenzial noch um den Faktor drei erweitern. Indem die Aktionsdaten des einzelnen Anwenders mit den Körperdaten während seiner Aktion in einen Zusammenhang gebracht werden, lassen sich wesentlich exaktere Rückschlüsse ziehen, die dann in der Folge tatsächlich zu einer Form von Vorausschau, einer Prädiktion werden. Wenn man das Gefühl einer telepathischen Beziehung zu anderen Menschen im Zusammenhang mit den besten Freunden wahrgenommen hat (also die Erfahrung, dass der Andere etwas schon wusste, bevor man selbst daran dachte), dann ist genau dieses Ziel der neue ökonomische Hebel, mit welchem Unternehmen ihre digitalen Angebote in Zukunft im Mikrokosmos für jedes einzelne Leben entwickeln werden.
Wenn wir uns an das Beispiel der Musikliebhaber erinnern und festgestellt haben, dass das Potenzial von 100 Liebhabern auf einer digitalen Plattform zu einem 10.000-fachen Wert für jene Unternehmen wird, die diese gemeinsamen Daten auswerten, dann ist die Integration von bspw. zusätzlich 100 Körperdaten im Moment jedes Augenblicks eines Menschen ein Faktor, der zur Zahl von einer Million führt. Würde man das auf die Kapitalisierung heute führender Unternehmen wie Google oder Amazon übertragen, die eine Marktkapitalisierung, welche aktuell bei nahezu einer Billion Dollar liegt, noch einmal geometrisieren, dann wird deutlich, dass die Relationen zu heutigen traditionellen Unternehmen der klassischen produktiven Wirtschaft (Productive Economy) kaum noch vorstellbar sind.
Es gibt allerdings aktuell eine wesentliche Entwicklung, die diesem Prinzip zumindest eine neue, andere Richtung geben könnte. Sogenannte Blockchain-Plattformen gefährden langsam das Geschäftsmodell der aktuellen Plattformen, die bisher kostenlos die Datenlieferanten und damit jeden Menschen anzapfen konnten. Das grundsätzliche Potenzial dieser Blockchains liegt darin, dass jede einzelne Aktivität des Menschen als ein Datensatz in einem kryptographischen Verfahren mit allen anderen Blockchains-Datensätzen verbunden wird. Damit verbunden sind aktuelle Informationen bei Transaktionen. Ursprünglich als Möglichkeit zur Entwicklung unabhängiger Währungen entwickelt, in gewisser Weise ein buchhalterisches System, ist die Blockchain-Technologie heute auf dem Weg, das Internet dahingehend zu revolutionieren, dass Mittler (Plattformen), welche aktuell Anwenderdaten auswerten, umgangen werden können. Jeder Anwender erhält dabei die Hoheit über seine Daten zurück bzw. könnte potenziell den Wert dieser Daten selbst im Markt anbieten. Diese Entwicklung wird heute schon Web 3.0 genannt.
Wesentlicher Qualitätsfaktor von Blockchains ist allerdings die Sicherheit aller einzelnen Blockchains. Joseph Lubin, ehemaliger Goldman Sachs Manager und Gründer von ConsensSys, einem Unternehmen, das an unterschiedlichen Blockchain-Projekten arbeitet, spricht hier von einem garantierten, automatisierten Vertrauen. Es bleibt die Frage, wie dies mit den verborgenen Instinkten des Homo Sapiens funktioniert?
Ich will diesen Text mit einer Ableitung schliessen, welche ich im Zusammenhang des Wirkungsgrades digitaler Medien auf Menschen aufgestellt habe:
Die Existenz erfordert Präsenz.
Die Präsenz wird zum Medium.
Das Medium wird zum Symbol.
Das Symbol ersetzt die Existenz.
Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.
© Carl Frech, 2018
Die Nutzung dieses Textes ist wie folgt möglich:
01 Bei Textauszügen in Ausschnitten, zum Beispiel als Zitate (unter einem Zitat verstehe ich einen Satz oder ein, maximal zwei Abschnitte), bitte immer als Quelle meinen Namen nennen. Dafür ist keine Anfrage bei mir notwendig.
02 Wenn ein Text komplett und ohne jede Form einer kommerziellen Nutzung verwendet wird, bitte immer bei mir per Mail anfragen. In der Regel antworte ich innerhalb von maximal 48 Stunden.
03 Wenn ein Text in Ausschnitten oder komplett für eine kommerzielle Nutzung verwendet werden soll, bitte in jedem Fall mit mir Kontakt (per Mail) aufnehmen. Ob in diesem Fall ein Honorar bezahlt werden muss, kann dann besprochen und geklärt werden.
Ich setze in jedem Fall auf Eure / Ihre Aufrichtigkeit.