GEWOHNHEIT

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Wir wissen, irgendwann sterben wir und machen trotzdem jeden Tag vieles wie gestern. Ein seltsames Konzept.

Die Gewohnheit ist einer der Begriffe, der so klar, so eindeutig und damit zum allgemeinen Verständnis zu gehören scheint, dass die inhaltliche Beschäftigung damit gleich zu Beginn ein paar Hürden in den Weg stellt. 

Wenn wir von Gewohnheit sprechen, dann meinen wir vor allem das, was wir kennen, was wir gelernt haben, was in unserem Leben so sinnvolle war, dass wir es zu einem habituellen und [auf Konsum ausgerichteten] Relevant Set formiert haben (ähnlicher Begriff: Awareness Set).

Relevant Set ist ein Begriff aus dem Marketing bzw. der Kommunikation. Er wird vor allem in Bezug auf Markenstrategie verwendet und bedeutet im Prinzip, dass Menschen für bestimmte Lebensbereiche bestimmte Produkte und Dienstleistungen (und damit die damit verbundenen Marken) mit hoher Priorität wählen. Dies kann ein Ergebnis sozialer Prägung sein, dies kann ökonomische Gründe haben, es kann vor allem mit dem Ziel der individuellen Differenzierung und Auszeichnung sein. Solche grundsätzlichen Entscheidungen für eine Marke (und deren Produkte und Dienstleistungen) haben oft einen stabilen Zustand und können nur schwer durch andere Angebote ersetzt werden. Allerdings hat sich die Bedeutung solcher stereotypischer Festlegungen durch Konsumentinnen und Konsumenten in den vergangenen Jahren deutlich hin zu grösserer Flexibilität verändert. Das bedeutet, dass die Treue zu den Marken volatiler wurde.

Wir haben also zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Leben [mehr oder weniger bewusst] entschieden, dass ein bestimmtes Verhalten so wiederholt werden sollte oder wiederholt werden muss, da wir uns dadurch einen Vorteil versprechen. Je nachdem, ob wir darüber positiv oder negativ resoniert [Resonanz] haben. Ich schreibe und meine hier bewusst resoniert, da es um eine Form des mitschwingen geht, ein Echoeffekt auf ein Angebot, das uns anregt, uns innerlich bewegt.

Diese Unterscheidung scheint wichtig, da es ja letztlich nicht so ist, dass wir unser Leben nur mit jenen positiven Gewohnheiten verbinden, die eine förderliche oder schützende Wirkung für uns entfalten. 

Einer Gewohnheit wird im Grundsatz eine gewisse Form der Entlastung zugesprochen. Die Wiederholung führt dazu, dass wir uns eine bestimmte Handlung habituell zu eigen machen, sprich, über sie nur noch wenig oder nicht mehr nachdenken müssen. Dieser senso-osmotische Vorgang ist von zentraler Bedeutung für alle in diesem Text aufbauenden Erläuterungen und Gedanken.
Mit der Wortschöpfung Senso-Osmose meine ich den Vorgang, der in der Folge zu einer intrinsischen Handlung führt. Etwas [eine Erfahrung] ist so tief in uns eingedrungen, dass wir darüber nicht mehr nachdenken müssen, wir handeln automatisch danach. Nicht zu verwechseln mit dem Instinkt, der Reaktanz bzw. einem Affekt.

Um dem Begriff Gewohnheit auf unterschiedlichen Ebenen näher zu kommen, soll hier ein Narrativ zum Thema, eine Geschichte erzählt werden. Eine Episode, wie sie sich zugetragen haben könnte.
Dabei geht es weniger um die Dramatik des Verlaufs, sondern um den Prozess dessen, was zu einer Gewohnheit geführt hat und wie das Spannungsfeld derselben in Relation zum Bewusstsein und nicht zuletzt der individuellen Intelligenz [2] zu verstehen ist.

Stellen wir uns einen typischen Augenblick vor, als ein Mensch, sagen wir vor vielleicht 30.000 Jahren, seine Sippe zum Sammeln von Beeren und Wurzeln verlassen hat. Er ging früh am Morgen aufrecht durch eine buschige Landschaft in Richtung des Waldes, der durch einen schmalen, aber tiefen Fluss getrennt, den besten Schatten für jene Nahrung bot, die er für diesen Tag als Beitrag zum Überleben seiner Sippe geplant hatte.

Der Plan war ihm nicht in dem Sinne bewusst, wie wir heute unsere Tage organisieren, aber es war doch eine Art Erwartung, welche auf jener Erfahrung basierte, die er in seinem Leben bis zu diesem Tag gemacht hat. Da jede dieser erfolgreichen Erfahrungen natürlich Grund genug dafür war, diesen Erfolg wiederholen zu wollen, entwickelte sich damit eine Form der Gewohnheit aus seinem Verhalten. 

So verliess er die Siedlung, gebaut aus Lehm und Astwerk im Schutz einer Höhle, an diesem Morgen in die gleiche Richtung wie am Tag davor. Er kannte den Weg und er erkannte dabei auch seine eigenen Spuren der Tage davor, an denen er diesen Weg gegangen war. Das gab ihm ein Gefühl von Schutz und er konnte im Vertrauen auf diese vermeintliche Sicherheit seinen Blick weiter über die Landschaft schweifen lassen.
Zum einen, um eine mögliche Gefahr früh zu erkennen, zum anderen, da er einfach neugierig war und eine ihm innewohnende Lust verspürte, einfach so über die Landschaft zu blicken. Es gefiel ihm, es machte ihm Freude, wenn er etwas wahrnahm, was er am Tag zuvor noch nicht gesehen hatte.

So bewegte sich dieser Mensch in einer Art Balance zwischen der Erfahrung, den damit verbundenen Mustern, die er kannte und welche er mit den Mustern des Tages und der Tage davor unterbewusst ständig verglich und seiner Bereitschaft, etwas Neues zu sehen, etwas Neues wahrzunehmen und dies hinsichtlich irgendeines Potenzials zu überprüfen, ob sich aus diesem Neuen etwas Wertvolles und damit gewinnbringendes für sein Leben und das Leben seiner Sippe ergeben könnte.

Die tägliche Beschaffung von Nahrung war dabei die wichtigste Grundlage für das Überleben der Sippe, vor allem für die Jüngsten, die lange die Obhut der Älteren brauchten und trotzdem früh den Gefahren der Natur oder Krankheiten zum Opfer fielen. Daher war die Fortpflanzung, die sexuelle Aktivität für möglichst viele Nachkommen eine weitere Überlebensstrategie. Nur ein möglichst grosser Clan konnte als Gruppe das Überleben der Einzelnen langfristig sichern.

Dieser frühe Mensch bewegte sich mit ein paar Lederlappen um seine Füsse in Richtung des Waldes, in dem er saftige Beeren und kraftspendende Wurzeln holen wollte. Da er diese auch in den Tagen davor dort fand und damit erfolgreich war, war seine Erwartung von Beginn an positiv. Er sah sich bereits gegen Mittag des Tages mit reichem Fund in seine Siedlung zurückkehren. Sein Körper bewegte sich sicher durch das dichte Gestrüpp. Er fühlte den noch taufeuchten Untergrund an seinen Füssen.
An der süssen Fäulnis in der Luft roch er ein verwesendes Tier in der Nähe eines kleinen Felsmassivs und entschied sich daher, einen neuen Weg etwas unterhalb der Felsen zu nehmen, die er am Tag davor überstiegen hatte. Das kleine Felsmassiv war ein wichtiger Ort zur Orientierung.

Er kannte diesen Ort, nutze diesen für einen Blick zurück zu einer Art Absicherung des Weges und des Ortes, den er gegangen war und wohin er am späteren Tag wieder zurückwollte. Auf der anderen Seite war der Fels eine Möglichkeit zur Übersicht des Weges, der vor ihm lag. Er konnte dabei die Situation abschätzen, in die er sich kurz danach begeben würde. Sein Blick suchte in alle Richtungen nach einer möglichen Gefahr, und er nahm dabei gleichzeitig sein Ziel jenseits des kleinen Flusses in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit.

Heute nahm er also einen neuen Weg auf der unteren Seite des Felsmassivs. Dieser Weg lag im Schatten. Der Boden war feuchter, die Luft kühler. Der Schatten des aus dieser neuen Position hohen Felsen nahm jedoch auch dem Wind die Kraft und es war fast windstill, als er das Massiv schon hinter sich glaubte und er die helle Lichtung erkannte, die vor dem Fluss lag. Sein Plan war klar: Wie an den Tagen zuvor würde er diesen Fluss wieder mit wenigen, aber kraftvollen Schwimmzügen überqueren. Es waren noch wenige Schritte, seine Vorstellung dessen, was er gleich tun wollte, nahm seine ganze Aufmerksamkeit ein, als er den Sprung des Tieres hinter sich hörte.

Dieser Textausschnitt aus dem Essay Human Data soll die Verflochtenheit menschlicher Wahrnehmung in einer Episode illustrieren. Menschliche Existenz ist immer ein Ausschnitt potenzieller Möglichkeiten, innerhalb derer sich Gewohnheit formt und langsam zu einer Typologie des Seins wird.

Gewohnheit beginnt pränatal. Schon im Leib der Mutter entwickeln sich erste Prägungen durch sinnliche Eindrücke, welcher das Embryo wahrnimmt und damit eine erste Idee wiederkehrender Rhythmen sich wiederholender Intervalle erhält.
Sicher kann man in dieser Phase der Wahrnehmung nicht von Verständnis sprechen, das diese Form der sinnlichen Aufnahme von Gerüchen (olfaktorisch), von Geschmack (gustatorisch) und von Geräuschen (autitiv) wohl vermutlich sehr implizit und damit in Relation der angeborenen Fähigkeiten bzw. der speziellen Kompetenzen, welche über die DNA diesem noch nicht geborenen Kind mitgegeben sind. 

Es wird schon länger darüber spekuliert und letztlich wird diese Annahme ohne Beweis bleiben, dass sich auch die Fähigkeit zur Musik, zur Klangbildung über eine Melodie schon in dieser Phase des Lebens entwickelt oder mindestens die Grundlage dafür legt. Das ist leicht erklärbar, da Kinder ab der (im Durchschnitt) 23 Schwangerschaftswoche ein soweit ausgebildetes Gehör haben, dass sie klar und differenzierend die Stimmen derer hören und unterscheiden können, welche sie im Mutterleib hören. Da die Form der Sprache, wenn sie mit dem ungeborenen Kind sprechen (der Eltern, der Verwandten, von Freunden), eher mit einer Art Sing-Sang beschrieben werden kann und sicher phonetisch nicht hart artikuliert wird, erhalten Föten (Benennung ab der neunten Schwangerschaftswoche) schon in dieser pränatalen Phase ihres Lebens einen latenten Eindruck ihrer späteren sozialen Umgebung (und deren Vertreter), wie auch ein erstes Gefühl für Klang, Melodie und Harmonie.

Vergleichbar verhält es sich mit der Fähigkeit zum Sehen. Auch wenn die Sehfähigkeit erst mit Verzögerung nach der Geburt sich über die Ausprägung der Augen entwickelt (die Kompetenz zum Erkennen und Differenzieren von Farben entwickelt sich erst ca. zwei Monate nach der Geburt), so können Föten in der Regel ab der 26 Schwangerschaftswoche auf Hell-Dunkel-Reize reagieren.

Wesentlich wichtiger ist jedoch die neuronale Prägung in den Monaten der Schwangerschaft, also der Zeit, in der das noch ungeborene Kind in einer auf allen Ebenen symbiotischen Beziehung [2] zu seiner gebärenden Mutter steht. Die Forschung zu den konkreten und belegbaren Einflussfaktoren für die neuronale Entwicklung des Gehirns [2], dem damit verbundenen Nervensystem und aller damit korrelierenden biodynamischen Prozessen ist hier noch relativ am Anfang. Andreas Plagemann, Geburtsmediziner an der Berliner Charité sagt dazu sehr einfach:
Vieles ist zwar noch Gegenstand der Grundlagenforschung, aber es ist naheliegend, dass eine glückliche Mutter tendenziell eher ein glückliches Kind bekommt. 

Während der zehn Monate werden zentrale Regelkreise im Gehirn und in den Genen kalibriert. Dieser Vorgang der fetalen Programmierung prägt ein Leben lang das Verhalten. Das ist wie ein Stempel, den ich in eine Knetmasse drücke, sagt Andreas Plagemann.

Ein wesentlicher und damit prägender Einflussfaktor ist Stress bzw. die Übertragung für Stressempfänglichkeit beim Kind und späteren heranwachsenden Menschen. Bei Stress der Mutter wird Cortisol ausgeschüttet. Ca. 10 Prozent davon gelangen über die Plazenta in das Gehirn des Fötus. 

Stress wird im Gehirn über den Hippocampus und Hypothalamus reguliert. Sehr vereinfacht ausgedrückt wird von dem noch ungeborenen Gehirn, das als normal angesehen, was in dieser Phase des Lebens die Norm ist. Das Stresssystem des Körpers justiert sich auf einem höheren Level als der Standard, was in der Folge dazu führt, dass die Stressempfindlichkeit schneller aktiviert wird.

Nun wäre es allerdings auch falsch, wenn die Prägung über den Umgang mit Cortisol grundsätzlich negativ bewertet würde. Evolutionär betrachtet, ist die Fähigkeit, schnell den eigenen Körper in Alarmbereitschaft zu versetzen, äusserst wichtig. Menschen sind dadurch in der Lage, eine komplexe Situation weiträumig und im Vorfeld soweit zu analysieren, dass sie potenzielle Gefahren ausschliessen. Letztlich ist diese Analyse, also das Zerlegen einer Situation, welcher sensorisch und kognitiv verarbeitet werden muss, ein hochkomplexer Prozess, der nicht zu leisten wäre, würden alle auftretenden Faktoren zu einer bewussten Verarbeitung führen. 

Man könnte hier weitere und detailreichere Beispiele für pränatale Phasen beim Menschen aufführen. Es geht vor allem um die Basisaussage, wie Menschen bereits in sehr frühen Entwicklungsphasen mit konditionierenden Eindrücken, welche sie in jedem Detail verarbeiten müssen, konfrontiert werden. 

Wenn man den Moment der Geburt betrachtet, so wird das Kind im Augenblick [2] der verlorenen Schwerelosigkeit (mehr oder minder der Zustand im Leib der Mutter) mit dem Abschied zu der bis dahin absoluten Realität konfrontiert. In diesem Augenblick entsteht vielleicht eine erste subjektive Ahnung von Vergangenheit für das geborene Kind. Versucht man diesen Moment und die damit verbunden Irritation zu beschreiben, dann sollte man zuerst die rein räumliche Dimension im Blick haben. 

Das Kind war während seinem bis dahin kompletten Leben in der Realität des Körpers der Mutter und damit absolut und über alle vitalen Lebensfunktionen mit ihr verbunden. Der eigene Körper war in einer sehr kompakten, kauernden Position und [idealerweise] in den letzten Tagen vor der Geburt mit dem Kopf nach unten ausgerichtet. Es herrschte eine mehr oder weniger gleichbleibende Temperatur und die eigene Körperoberfläche war komplett mit dem Fruchtwasser der Mutter umschlossen. Dieses Fruchtwasser konnte der Fötus auch in seinen eigenen Körper aufnehmen, es schluckte und hielt gleichzeitig die Luftröhre mit dem Instinkt des noch nicht Geborenen verschlossen. 

Betrachten wir eine normale Geburt. Der Geburtsvorgang geht davon aus, dass der Kopf des Kindes zuerst durch die Vagina den Körper der Mutter verlässt. Dieser Prozess ist im Wesentlichen der eigentliche Geburtsvorgang, da der Kopf proportional ca. 1:3 des Gesamtvolumens bzw. der Grösse des Körpers des Kindes ausmacht (mit 2 – 5 Jahren wächst die Proportion bereits auf 1:5, im Grundschulalter zügig auf 1:6, als junger Erwachsener schliesslich auf 1:7). Das Kind, das sich davor überwiegend vermutlich als komplette und kompakte Gestalt, vor allem in Relation zu den Bewegungsmöglichkeiten wahrgenommen hat, verliert im Augenblick, als der kindliche Körper schliesslich komplett den der Mutter verlässt (und damit die universale und einzig vorstellbare Gesamtheit alles Vorstellbaren) alles was bis dahin relevant und bedeutsam für die eigene Existenz war. 

Diese Veränderung, welche an dieser Stelle ausdrücklich nicht als Trauma bezeichnet werden soll, ist von so grundsätzlicher Dimension, da dem neugeborenen Kind tatsächliche die Welt entzogen wird und es in eine neue Welt kommt, die in Bezug auf die erste, als wichtige Information, durch ihre Grenzenlosigkeit gekennzeichnet ist. Der Körper des Kindes verliert den Halt und damit die Ordnung, welche durch die Begrenzung im Innern der Mutter gegeben war und expandiert über den neuen Raum ins Unendliche. Die Arme und Beine, der Rumpf, der sich strecken kann, der Kopf, der ohne Halt mit demselben verbunden ist, diese neue Realität ist so grundsätzlich und so elementar, dass man sicher, wenn auch spekulativ, diese erste Erfahrung mit der äusseren Welt als den Nullpunkt der Individualität und damit auch als Trennlinie zum Absolutem bezeichnen darf. 

Da das menschliche Gehirn zu diesem Zeitpunkt, im Vergleich aller anderen biologischen Varianten auf diesem Planeten, bereits eine extreme Grösse und auch schon relativ ausgeprägte Intelligenz erreicht hat, ist dies mit Blick auf die Perspektive der zunehmenden Möglichkeit zur Reflexion, zum eigenen Bewusstsein und damit zum eigenen Sein, eine clevere Entscheidung. Alles Störende wird für die weitere Entwicklung so weit ausgeblendet, dass der zentralen Zielsetzung, der weiteren Entwicklung des Gehirns, keine Hindernisse auferlegt werden. 

Der menschliche Körper, ist als Teil der Natur, während der ersten Monate bzw. bis ca. zum dritten Jahr nach der Geburt, nahezu vollkommen abhängig von der gebärenden Mutter, vom Vater und der Familie, früher der Sippe, in die es hineingeboren wurde. Diese vollständige Abhängigkeit hat dabei zwei grundlegende Paradigmen: es braucht die faktische Sicherheit über das konkrete Umfeld und es braucht vor allem das versorgende, vor allem aber das soziale, impulsgebende Umfeld, ohne dies (und die damit verbundenen Erstprägungen) eine weitere neuronale Entwicklung des Gehirns, des zentralen Nervensystems und aller vitalen biochemischen Prozesse nicht oder nur eingeschränkt möglich wäre. 

Man könnte darin fast ein Paradoxon [2] sehen, dass der Mensch zur Ausprägung seines zentralen Erfolgsfaktors, seinem Gehirn, die Einbettung in eine soziale Gruppe elementar und wie kein anderes Lebewesen benötigt, um zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben seine Individualkraft [Innovationskraft] voll zur Entfaltung bringen zu können, sich also von der Lebensgemeinschaft zu differenzieren, welche sein Überleben sicherte. Anders ausgedrückt:

Wenn man bedenkt, dass der Mensch den Preis für sein Gehirn im Laufe der Evolution damit verdienen musste, dass er bis heute die ersten Jahre in vollkommener Abhängigkeit verbringt, versteht man die Bedeutung seiner Fähigkeit zu eigenen Visionen und damit auch zur Autonomie innerhalb einer sozialen Gruppe. 

Diese Aussage ist selbstverständlich in der Evolution generell und bei allen Lebewesen systemisch angelegt. Jede neue Generation versucht den Qualitätssprung zu der vorangegangenen. Allerdings ist bei keiner anderen Spezies die Kluft zwischen der frühen fundamentalen Abhängigkeit zur späteren maximalen Unabhängigkeit so gross [in Relation zu den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten].

Der Aufwand für diese Form der Potenzialentwicklung [2] ist enorm: Aktuelle empirische Untersuchungen haben herausgefunden, dass ein Mensch im Schnitt ca. 16.000-mal stürzen und stolpern muss, auf jeden Fall eine gewisse Unsicherheit zeigen, bevor er sich aufrecht und sicher bewegen kann. 

Die Bereitschaft des sozialen Umfeldes ist dabei in der Biologie nahezu beispiellos. Kein anderes Lebewesen ist in Relation zur Lebensdauer so reduziert bei der Reproduktion der eigenen Spezies. Die Dauer der Schwangerschaft und die Abhängigkeit der in der Folge geborenen Kinder in Relation zum zeugungsfähigen Lebensalter war für die Entwicklung des Menschen eine Herausforderung. Der Faktor Schutz des geborenen Lebens war essenziell, da jeder Verlust für den eigenen evolutionären Prozess (die Fortpflanzung) ein klarer Nachteil war. Somit war die Entwicklung des Gehirns beim Homo sapiens der biologische Hebel für den aktuellen Erfolg auf diese Planeten.

Und dabei spielt der Einsatz bzw. die intelligente Verwertung von Gewohnheiten eine wichtige Rolle. Dieser Prozess beginnt, wie weiter oben beschrieben, schon vor der Geburt. Mit dem Zeitpunkt der Geburt und den darauf folgenden Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren ist die Lernfähigkeit grundsätzlich, aber auch die Lernumgebung bedeutend für die individuelle Entwicklung. Am Anfang ist [nahezu] alles neu. Wie atme ich? Trägt mich die Fläche, auf der ich liege? Ist das die Stimme meiner Mutter? Wie bekomme ich Nahrung?

Die ersten unbewussten Fragen des Lebens sind grundsätzlich und so implizit, dass sie von allen Beteiligten in der reinsten Form des Begriffes Genese als das hingenommen werden, was sie sind: die Bedingungen für Leben. Sie dulden keine Fragen, sie müssen erfüllt werden, damit Leben überhaupt möglich ist. 

In dieser ersten Zeit des Lebens nimmt das Gehirn, einem Schwamm ähnlich, alles auf, vollkommen ungeschützt und ohne irgendeine Möglichkeit der Filterung. Jeder Input dringt tief in die Wahrnehmung und damit in das Gesamtbewusstsein des neuen Menschen ein.

In diesen ersten Lebensphasen scheint das menschliche Gehirn in der Lage zu sein, eine Komplexität in einer Geschwindigkeit zu verarbeiten, wie es in späteren Jahren nie mehr möglich scheint. Und in der Regel auch nicht mehr realisierbar ist. 

Letztlich funktioniert das Gehirn sowohl holistisch als auch partikulär, je nach situativem Bedarf. Vor allem aber spielen die unterschiedlichen Hirnfrequenzen (Gamma, Beta, Alpha, Theta, Delta) für die Form der Verarbeitung allen Inputs eine zentrale Rolle. Je nach der umgebenden Aufgabe bzw. der Situation passt sich der Frequenzbereich des Gehirns an bzw. muss in der Form aktiviert werden, um die ideale Lebensleistung zu bringen. 

Der Aufbau des besten Sets an Gewohnheiten, eine Art von Ablage im Regal des menschlichen Unterbewusstseins, spielt dabei eine wichtige Rolle für jede Entscheidung, die ein Mensch trifft. Wie bewusst auch immer diese getroffen wird.

Wie kompliziert und dann doch wieder wie einfach das Thema Gewohnheit am eigenen Körper erfahren werden kann, illustriere ich immer gerne mit einer üblichen, sehr menschlichen und alltäglichen Routine.

Wenn man mal versucht, sich nach dem täglichen Duschen bewusst und komplett anders abzutrocknen als am Tag und den anderen Tagen davor, dann wird man merken, wie festgelegt die habituellen Abläufe bei uns gespeichert sind. Man versucht, den kompletten Körper trocken zu reiben, man vergisst manche Stellen, es wird einem fast ein wenig schwindlig.


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2020

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