IDEE

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Haben wirklich wir Ideen. Oder sind wir nur ein Brutkasten der Zeit, in der wir leben? Aber wäre das schlimm?

Es scheint ein wenig vermessen, über das Thema Idee auf einer gewissen Metaebene schreiben zu wollen. Es ist ja vermeintlich so klar und einfach: Ein Idee fällt einem zu. Man hat eine Idee. Die Idee kam in den Sinn. Ohne darüber nachzudenken, hatte man plötzlich die Idee.

Es ist also vermutlich die Mühelosigkeit, die Gelassenheit und die Muse generell, die den besten Nährboden für Ideen bieten. Wie eine Flüssigkeit, die sich immer den leichten und damit zwingend besten Weg sucht, folgen Ideen ihrem innewohnenden Weg, immer wissend wohin es sie treiben soll.

So scheint es zu sein. Eingewoben in die Ungerechtigkeit, dass manche Menschen leicht oder gar ständig Ideen haben und andere überhaupt nicht. Oder nur selten. Und dann wird dies gerne dem Glück zugerechnet.

Ideen scheinen durch die Luft zu fliegen. Am besten, man bewegt sich, dann wird man sicher an einer Idee vorbei kommen. Vielleicht fliessen Ideen auch über das Wasser zu uns, wenn wir duschen. Vielleicht sind Ideen auch Nachtgeschöpfe, die nur in der Dunkelheit zu uns kommen und am besten, wenn wir im Bett liegen und mehr oder weniger nichts mehr denken.

Es scheint klar, eine Idee ist ein Glücksfall und damit das, was eng mit individuellem Erfolg in Verbindung steht. Der hatte eine richtig gute Idee! Menschen mit guten Ideen scheinen auch geeignet zu sein, Führung zu übernehmen, andere Menschen zu leiten, sie zu motivieren, zu begeistern. Einfach darum, weil sich Menschen, so scheint es, durch ihre guten Ideen auszeichnen.

Eine gute Idee wirkt irgendwie auch attraktiv, sie verleiht Sicherheit, dass, wenn nötig, die gleiche Person, die diese Idee hatte, auch weitere gute Ideen haben wird. Zumindest steigert sich die Chance dafür.

Ob es so einfach ist? Vermutlich nicht. Vielleicht sollte man eine andere Perspektive einnehmen? 

Eine Idee scheint ein Problem zu benötigen, eine Herausforderung, irgendetwas, was eine bessere, sei es auch nur eine attraktivere Lösung ermöglicht.

Damit sprechen wir also von der Lösung eines Problems. Dies klingt deutlich weniger attraktiv als die vorangegangenen Beschreibungen, bei der die Idee wie ein Vogel über uns schwebt und sich zielsicher auf der Schulter von ausgewählten Glücklichen niedersetzt.

Ich will meine Definition einer guten Idee an den Beginn stellen, wissend, dass mit der Hervorhebung des Guten automatisch ein Dilemma verbunden ist.

Eine gute Idee macht im Kern schon die nächste und damit die noch bessere Idee sichtbar.

Wie gesagt, das Dilemma besteht darin, dass eben nicht alle Ideen automatisch gute Ideen sind. Vielmehr scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. Unsere Welt steht womöglich vor der Herausforderung, durch die produktiven Möglichkeiten, nahezu jede Idee umsetzen zu können, einfach weil man sie umgesetzt sehen will, die globalen Ressourcen aufzubrauchen und damit die Grundlage für die wirklich guten Ideen immer weiter zu gefährden. 

Das klingt ein wenig dystopisch und tatsächlich liegt hier eine reale Gefahr, aber wir wollen diese eher negative Perspektive für einen Moment noch zur Seite legen.

Wenn wir die aktuelle Realität der vorwiegend konsumorientierten Gesellschaften betrachten, dann scheint es bei weitem keinen Mangel an Ideen zu geben. 

Vielmehr scheint der Mangel darin zu bestehen, dass eine Gesellschaft bzw. eine einzelne Person in ihrer Fähigkeit zur Verarbeitung neuer Ideen überfordert wird und schliesslich die Akzeptanz dafür nicht aufbringen kann. Oder nicht aufbringen will. Im Ergebnis ist die Überforderung das Problem.

Im Rückblick des Jahres 2050 auf unsere aktuelle Zeit werden wir möglicherweise fassungslos auf die Möglichkeiten blicken, aus welchen hätten wählen können. 
[Vielleicht] ohne tatsächlich eine Wahl gehabt zu haben.

Bleiben wir einen Augenblick bei dem Gedanken an das Neue. Der Begriff der Innovation [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] drängt sich förmlich auf. 

Ich unterscheide hier seit vielen Jahren in den Unterschied der aufbauenden, zur grundsätzlichen Innovation.

Eine aufbauende Innovation ist ihrem Wesen nach immer in direkter und evolutionären Abhängigkeit zu der vorangegangenen Version, welche im Zusammenspiel zum Alten eine deutliche, eine markante Verbesserung erfahren hat (man sollte dazu sagen: im idealen Fall – bedenkt man all die vermeintlichen Verbesserungen, die sich in unserer inflationären Warenwelt finden lassen).

Man spürt regelrecht, der Übergang ist wenig fassbar. Geht es um formale Veränderungen, dann verliert der Begriff der Innovation schnell an griffiger Bedeutung. Aber auch funktionale Optimierungen sind oft so marginal, dass man auch hier nicht mit Überzeugung von Innovation sprechen kann. 

Ist der besser geformte Griff eines Messers, der die Funktion desselben tatsächlich optimiert, eine Innovation?
Ist ein Rucksack mit einem cleveren System von Taschen und Möglichkeiten zum Durchgreifen eine Innovation?
Ist ein Roller mit Elektroantrieb, den man durch das Antippen mit einem Finger in Bewegung setzt, eine Innovation?
Ist eine Software, die es erlaubt, dass Menschen gleichzeitig zu einem Thema arbeiten und sich austauschen, ohne im gleichen Raum zu sein, eine Innovation?
Ist ein Fahrzeug, das statt mit einem fossilen Brennstoff mit Wasserstoff angetrieben wird, eine Innovation?

Vermutlich gibt es zu diesen Fragen von vielen ein eindeutiges Ja und gleichzeitig von anderen auch ein klares Nein.

Ein aufbauende Innovation baut eben auf jener Version auf, die als Basis für die folgende, die neue Version diente und ist damit auch integrierter Teil derselben. 

Nun spielt hier natürlich die Zeit eine wesentliche Rolle. Das Automobil wurde, auch wenn es 1769 einen von dem Franzosen Nicholas Cugnot, 17251804, erbauten Dampfwagen gab, der tatsächlich und ohne Muskelkraft 18 Kilometer weit fuhr, 1886, besonders im Zusammenhang der darauf folgenden Serienfertigung, von dem deutschen Erfinder Carl Benz entwickelt. Das Motordreirad Benz-Patent-Motorwagen Nummer 1 war damit die Keimzelle eines neuen Ansatzes für individuelle Mobilität. Auch wenn es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis die Technologie wirklich die globalen Gesellschaften durchdrungen hat, so ist mit dieser Innovation ein relevanter Aspekt zu betrachten: Diese Technologie hat in der Folge nahezu alle Lebensbereiche auf unserem Planeten verändert. 

Eine grundsätzliche Innovation hat einen Disseminationseffekt, der sich radial auf alle Lebensbereiche auswirkt und diese grundlegend verändert.

Vor diesem Hintergrund kann man die Erfindung des Automobils vermutlich mit gutem Gewissen als grundsätzliche Innovation bezeichnen. Es gab natürlich Methoden der Mobilität, aber die Möglichkeit der Unabhängigkeit von einer externen Kraft (bis dahin waren Pferdefuhrwagen der Standard) durch einen fossilen Brennstoff und einen Motor, der immer lief, solange der Tank gefüllt war, war durchaus ein Game-Changer. 

Der Begriff Game-Changer beschreibt den Kern der vorangegangenen Frage nach dem Unterschied zwischen einer aufbauenden und einer grundsätzlichen Innovation recht gut:
Das Spielfeld wird geändert und damit auch die Spielregeln. Vieles von dem, was bis dahin gelernte, vielfach tradierte Konditionen und Verhaltensmuster waren, haben sich in der Folge verändert. Es entstanden nicht nur neue Branchen und Industrien mit den dazu nötigen neuen Berufsfeldern; die komplette Infrastruktur des öffentlichen Lebens und all ihrer Abläufe und Optionen erhielt ebenfalls eine neue, eine grundsätzlich andere Ausrichtung, die natürlich insbesondere durch die wirtschaftlichen Potenziale ihren Gradmesser für den erhofften Erfolg erhielt.

Wie gesagt, beim Automobil darf man vermutlich von einer grundsätzlichen Innovation ausgehen. Aber gilt das auch für die darauf aufbauenden Technologien, die im Kern die Idee des Produktes lediglich prozessual optimiert haben?

Streng genommen sind all dies keine grundsätzlichen Innovationen, sondern Adaptionen [2] an veränderte Möglichkeiten, Anforderungen und Bedürfnisse.

Weiter oben wurde die Bedeutung der Zeit für die jeweilige Neuerung bzw. die jeweils neue und damit aktuelle Version erwähnt. Nun kann man sagen, dass die ursächliche Idee eines Automobils, also die solitäre und autonome Möglichkeit, um mit Hilfe eines Fahrzeugs eine Wegstrecke zurücklegen zu können, ohne eigene Kraft aufwenden zu müssen, auch bei heutigen Fahrzeugen der Nukleus des Produktes darstellt. 

Es gibt auch bei heutigen Fahrzeugen noch Räder (heute vier, bei dem ersten Fahrzeug von Carl Benz waren es drei), es gibt eine Möglichkeit zum Steuern durch eine Person, man kann damit etwas transportieren, man kann das Fahrzeug im Prinzip zu jeder Tageszeit nutzen. 

Allerdings hat sich im Zusammenspiel der einzelnen Komponenten des Fahrzeuges nahezu alles verändert.
Früh bekam das Fahrzeug ein Dach, damit es auch witterungsunabhängig genutzt werden kann. Die Bedeutung von Licht spielte eine grosse Rolle und war ebenfalls früh ein Thema. Bald schon wurde die mögliche Gefahr erkannt, die von diesem Fahrzeug ausgehen konnte, wobei das Thema Sicherheit in den Fokus geriet. Man könnte diese Liste nahezu endlos fortsetzen. Im Kern aber sind alle Veränderungen aufbauende Entwicklungen, die die Grundidee nicht verändert haben.

Im Prozess dieser Veränderungen wurde vieles komplett neu eingeführt, anderes jedoch auch zurückgelassen und hier kommen wir wieder auf die Relevanz des Faktor Zeit.
Aufbauende Entwicklungen inkludieren immer einen bestimmten Anteil der davor genutzten Technologie bzw. der damit verbundenen Funktionen, vor allem aber die gelernten Routinen (Standards) durch die Anwender (Menschen) und damit sprechen wir auch von der Gewohnheit. Das bedeutet schliesslich, dass die jeweilige Version die vorangegangene noch sicht- und nutzbar macht, gleichzeitig (idealerweise) aber auch schon eine weitergehende Vision offenbart, wie die Zukunft aussehen könnte. Wie schon formuliert:

Eine gute Idee macht im Kern bereits die nächste und damit die bessere Idee sichtbar.

Um Technologien bzw. die damit verbundenen Produkte und Services besser verstehen zu können, ist es wichtig, die Halbwertzeit und damit den zeitlichen Bestand vergangener Aspekte zu erkennen. Es gibt viele Produkte, die basieren noch weitgehend auf den Zutaten bzw. Ansätzen, die schon vor Jahrzehnten Teil der Lösung waren.
Es gibt andere Produkte, deren Spektrum an Neuerung (geringe Halbwertzeit) veränderte sich in einem eher kurzen Zeitraum. Mit einem weiteren Leitsatz könnte man sagen:

Neue Ideen transformieren ein bestehendes Angebot um den Wert dessen, womit ein erhöhter Nutzen, eine höhere Attraktivität und damit eine neue Akzeptanz vermutet wird. 

Alles was diese Ziele nicht erfüllt, bleibt unverändert erhalten und garantiert neben einer standardisierten Funktionalität die ökonomische Plausibilität des Aufwandes der Veränderung.

Anders ausgedrückt, ist jedes Produkt, jeder Service (als neues Angebot) immer ein Relikt dessen, wie es sich in der Vergangenheit entwickelt hat, aber auch schon ein Ausblick, eine Perspektive dorthin, welche Ziele damit in der Zukunft erreicht werden sollen. 

Man könnte auch sagen, es erzählt etwas darüber und ist dadurch auch ein Gradmesser, welche Probleme in der Vergangenheit (welcher Zeitspanne auch immer) zu lösen waren und welche Probleme in der Zukunft gelöst werden sollen. 

Wenn wir den Begriff der Idee vor allem mit der Perspektive der Problemlösung betrachten, dann ist es eben nicht so, dass Ideen nur als Zufall gewertet werden können, als ein glücklicher Vorgang, dass einem diese oder jene Idee zufiel. Das, was der menschliche Geist final artikuliert und damit auch das, was man schliesslich als Idee bewerten kann, ist immer das temporäre Ergebnis einer umfänglichen Reflexion und damit eines komplexen Hintergrundes. Das betrifft immer auch die eigene individuelle Vergangenheit, mit allen bewussten, semi-bewussten und unbewussten Erfahrungen und Prägungen. 

Jede Idee ist immer das intuitive und kognitive Produkt eines holistischen Reflektors der eigenen Existenz und lässt sich davon nicht trennen.

Wenn wir also davon ausgehen, dass Ideen nicht nur [unbewusst] passieren, sondern entwickelt werden müssen, dann ist die Arbeit mit Ideen ein Prozess, dessen Ziel die bestmögliche Idee sein sollte. Und damit sprechen wir von der Qualität von Ideen.

Wobei die beiden Begriffe passieren und entwickeln, durchaus einen Moment näher betrachtet werden können, da sie, wenn man sie etymologisch in den Fokus nimmt, zur Klärung dessen beitragen, was mir hier wichtig ist.

Das passieren steht nicht nur für das vorbei gehen und damit das zurücklassen (die Orte, die man passierte), sondern ist auch ein Begriff, der aus der Küche stammt. Mit einem Passiersieb werden aus einer Masse (zum Beispiel gekochten Früchten) die festen Bestandteile so getrennt (passiert), damit ein überwiegend flüssiges Extrakt gewonnen werden kann. Man trennt das heraus, was man für das gewünschte Ergebnis nicht benötigt. Was nicht bedeutet, dass das Herausgelöste nicht für etwas anderes gut sein kann.

Beim Entwickeln könnte man den Begriff auch so verstehen, dass man alle bzw. die nötigen Wickel entfernt und damit zum Kern einer Sache vordringt, zu dem, was durch das Eingewickelte verborgen und damit zuerst unsichtbar war. 

Mit dieser Perspektive und im Sinne dieses Textes liegt allem, was Menschen nutzen bzw. womit sie ihr Lebensumfeld gestalten, ein Nukleus zugrunde, warum etwas erfolgreicher wurde als das andere und damit auch die Antwort auf die Frage, warum sie diese [Aus-] Wahl getroffen haben. 

Ich benutze gerne den Begriff Nukleus, da er in vieler Hinsicht eine starke Metapher darstellt: Es ist der Teil einer Frucht, der die Saat einer nachfolgenden Frucht ausmacht, es ist der zentrale Teil einer Silbe und damit ein wichtiges Glied von Sprache und Kommunikation, es ist das härtere Material (Feuerstein) in der Steinzeit, mit dem aus dem weicheren Material andere Werkzeuge geschlagen wurden, es ist schliesslich die Masse tragende Mitte jedes Atoms und damit das Zentrum von allem.

In Bezug auf ein Produkt könnte man folgende Frage formulieren: 

Was ist der Nukleus eines Produktes, warum es nicht nicht nicht erfolgreich sein konnte. Warum der Erfolg zwingend war?

Es ist die Frage nach der zentralen, der verbesserten Idee (dem Neo-kleus), die den Unterschied zu jenem definiert, was bis zu diesem Zeitpunkt der Standard war.

Diese Frage kann man für alles stellen was uns in unserem Alltag umgibt:

Was ist der Nukleus eines COMPUTERS?
Was ist der Nukleus einer (inzwischen veralteten) MUSIK-CD?
Was ist der Nukleus eines TELEFONS?
Was ist der Nukleus des INTERNETS?

Es ist natürlich klar, dass diese technologischen Felder in sich so komplex sind, dass alleine schon die Frage, ob es hier einen zentralen Grund für den Erfolg bzw. die zwingende Logik desselben geben muss, ein wenig fragwürdig wirkt.

Trotzdem ist es von zentraler Relevanz, genau zu diesen osmotischen Tiefen einer Idee vorzudringen, um letztlich auch zu verstehen, was die treibende Kraft war, welche in der Folge dazu führte, dass eine Idee neue Ideen schuf, auf dieser aufbauten und die vorangegangene verbessert haben.

Um die vier vorangegangenen Fragen (wenn auch nur aus meiner Perspektive) zu beantworten, kann man die Antworten in je einem Adjektiv zum Ausdruck bringen:

UNDO
JUMP
REACH
GET

Lassen wir das mal so stehen und versuchen im Umfeld des Themas und der Überschrift Idee ein paar historische bzw. theoretische Hintergründe zu beleuchten.

Der Ausdruck Idee leitet sich aus dem altgriechischen (ἰδέα idéa) ab und bedeutet Gestalt, Erscheinung, Aussehen, aber auch Urbild. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man darunter einen Gedanken, nach dem man handeln kann (sich leiten lassen), oder ein Leitbild, an dem man sich orientiert.

Diese Differenzierung ist aus verschiedenen Gründen interessant. Sie positioniert die Person in beiden Fällen zum einen in eine aktive Instanz (ich lasse mich leiten, ich orientiere mich an), gleichzeitig aber auch in eine passive, da nach der Entscheidung die darauf folgende Handlung zu einem Substitut [2] für einen bewussten Prozess (und damit eine solitäre Entscheidung) wird.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wenn wir einen Bahnhof betreten, beginnen zwei Systeme einen möglichst idealen Ablauf zu generieren. 

Zuerst kennen wir das Konzept [2] eines Bahnhofes (vor allem in unserem Kulturkreis) und bringen damit ein relativ grosses Erfahrungsspektrum (set of experience) mit in die Situation. 

Dann geht es um die Frage, ob dieser Bahnhof zum ersten Mal betreten wird oder schon Basisinformationen vorhanden sind, welche genutzt werden können. 

Schliesslich hat man ein konkretes, situativ eigenständiges Bedürfnis, ein Ziel, eine Absicht, die nun verfolgt werden soll. Es gibt also ein sehr spezielles Problem, das gelöst werden soll. 

Es ist klar, wir sprechen hier von einer trivialen Situation im Alltag. Trotzdem kann man hier grundlegende Prinzipien herausarbeiten, die auch im Zusammenhang der Beschäftigung mit dem Thema Idee eine Rolle spielen.

Zum einen geht es immer um die Formel, welche vor allem von Jacques Bertin, 19182010, im Zusammenhang seiner Arbeit als Kartograph aufgestellt wurde: 

Konstanten werden mit Variablen zu Varianten.

Es benötigt also immer einen Basissatz an Erfahrung (Konstante), Wissen, Prägung, ggfs. auch Talent oder Intuition, um in einer bestimmten Situation ein Ziel durch die Kombination mit einer individuellen Zutat (Variable) zu einem neuen Ergebnis (Variante) zu entwickeln. Oder eben ein Problem zu lösen.

Dieser grundlegende Aspekt ist wichtig, wenn wir von den Einflussfaktoren sprechen, die Menschen überhaupt in eine Situation versetzen, etwas in ihrem Leben (bewusst, semi-bewusst oder unbewusst) zu ändern.

Gehen wir einen Moment zurück zu dem Beispiel eines Bahnhofes. Ein wichtiges System in einem Bahnhof ist das sogenannte Leit- und Orientierungssystem. Wenn wir uns an die weiter oben genannte Unterscheidung erinnern: Ein solches System bietet Orte mit komplexeren Informationen, welche die grundlegenden Ziele in einer Übersicht darstellen. Man kann sich hier orientieren. Diese Informationen sind ein Angebot für eine spezielle Auswahl, die immer relativ zu dem absoluten Ort steht (der in der Folge natürlich wiederum relativ zu der grösseren, absoluten Umgebung, dem Stadtraum zu verstehen ist). 

Die Auswahl (welche wir vor Ort in Bezug auf unsere Situation treffen), ist daher immer das Ergebnis einer Orientierung an diesem Ort und führt in der Folge dazu, wie man sich von dem anderen Teil des Systems leiten lässt (also dem Leitsystem). Diese Kombination zwischen der ausreichenden und gleichzeitig erfassbaren Menge an Informationen für die Orientierung und die reduzierten (alles unnötige ausgeblendeten) Informationen, für das sich leiten lassen, bieten im Grunde die Sicherheit dafür, das gewünschte Ziel zu erreichen und damit das Problem zu lösen.

Wie oben aus der Definition entnommen, geht es um eine Handlung (nach einem Gedanken, einer Idee) oder eben einem Leitbild, das, auch entsprechend dem oben genannten Vergleichsbeispiel, eine grössere Dimension, man könnte auch sagen, einen darüber hinaus gehenden Anspruch zu erfüllen hat. 

Einem Leitbild zu folgen (und damit eine Richtung einzuschlagen), ist ein grundlegenderer Akt, als dieser Richtung nur für eine gewisse Zeit zu folgen. Man könnte auch sagen, dass ein Leitbild für die Orientierung eine gewisse Form an Glauben benötigt, um eine damit verbundene Entscheidung treffen zu können. 

Dieser Gedanke spielt bei der Frage eine Rolle, nach welchen Kriterien die Qualität einer Idee beurteilt wird. 

Wenn wir den Begriff eines Leitbilds auch mit dem Begriff Vision verbinden und für das Folgende gleichsetzen, dann ist die Relevanz und das Potenzial einer Idee eng mit dem Korridor einer Vision verbunden, der mehr oder weniger diffus den zeitlichen Ablauf einer Handlung bestimmt. 

Es ist ein verführerischer Gedanke, eine Vision wäre grundsätzlich positiv und ohne jeden kritischen Faktor. Das ist ein naiver Ansatz, der in der Regel früh zur Aufgabe einer grundlegenden Idee führt. Ich denke vielmehr, dass eine Vision (als Basis einer Idee) immer sowohl die Chancen (Potenziale), wie auch die Risiken (kritische Faktoren) inkludieren muss, um tatsächlich Teil der Lösung (eines Problems) werden zu können. 

So gesehen steht jede Idee vor der Herausforderung, ihr eigener grösster Feind zu sein. 

Eine Idee definiert ihr langfristiges Potenzial, indem sie ihre Relevanz permanent und grundlegend in Frage stellt, mehr noch: indem sie permanent deren Existenz mit divergenten Ansätzen bekämpft. 

Die Entwicklung einer Idee und damit der Ansatz jeder Innovation muss im Kern immer revisionistisch sein.
Das Prinzip des Revisit, das wieder besuchen eines lieb gewonnenen Ansatzes (einer Idee) ist damit essenziell für eine nachhaltige und zukunftsstarke Entwicklung. Es gibt unendliche Beispiele für gefeierte Innovationen (und damit deren Schöpferinnen und Schöpfer) wie auch für Unternehmen, die nicht den Mut hatten, ihre eigene grundlegende Idee immer wieder zu befragen und damit auch weiter zu entwickeln. 

Der frühe Erfolg wie auch die zu frühe Zufriedenheit mit einer Idee ist die grösste Falle hin zu einem unerwarteten Misserfolg, wenn auch mit der zeitlichen Verzögerung einer temporären Durchdringung in dem geplanten Markt.

Dieser Gedanke spielt bei dem Thema Markteintrittsstrategie eine grosse Rolle. Hier wollen wir dies nicht weiter verfolgen. 

Hier noch ein paar grundsätzliche historische Ableitungen. Zu dem altgriechischen Substantiv idea, das, neben den genannten Bedeutungen, auch der Wortstamm idein für erblicken oder erkennen gehört, gesellte sich in der Antike bzw. dem Mittelalter das ältere Substantiv eidos, das vor allem für den visuellen bzw. den generellen Eindruck steht, der mit der Idee in Verbindung steht.

Es geht dabei um die Form oder Gestalt, eine äußere Erscheinung, die beispielsweise als schön oder hässlich beschrieben wird. Es ist eine Erscheinung, die auch als bloßer Schein täuschen kann; das Aussehen weckt Erwartungen, die manchmal enttäuscht werden.

Die beiden Wörter idea und eidos definierten nicht nur die äussere Gestalt einer Sache, sondern standen auch typologisch [2] für ihre Träger bzw. die Überbringer einer Vorstellung der damit verbundenen Gestalt (-ung) und damit der Idee. Man könnte daher sagen, dass die Idee immer auch in einem kausalen Zusammenspiel zu jenen steht, die diese Idee haben, diese überbringen oder auch nur vorbringen. 

Diese interpersonellen Prozesse scheinen ein wichtiger Erfolgsgarant für die Annahme einer Idee innerhalb einer Gemeinschaft zu sein. Abhängig von der gesellschaftlichen Position, der kommunikativen Fähigkeit, dem nur diffus zu beschreibenden Charisma einer Person oder den psychosozialen Interaktionen der jeweils Beteiligten in dem Prozess zur Entwicklung einer Idee, gibt es komplexe Kriterien, warum der eine Ansatz (Idee) für erfolgversprechender wahrgenommen wird, als die anderen.

Platon, 428/427 v. Chr.348/347 v. Chr., hat den Begriff der idea als etwas, was man äusserlich und sinnlich wahrnimmt, um das Prinzip des geistigen Sehen erweitert. Es war wohl auch im Gleichklang der weiter oben genannten Fragen nach dem Nukleus einer Idee der Versuch, diese beschreibbar, verteidigbar und in eine bestehende Struktur einbindbar zu machen. Letztlich also der Versuch, die Idee zu einem Instrument der Wissenschaft (bei Platon vor allem aus einer philosophischen Perspektive) zu machen und sie damit von der Beliebigkeit zu befreien, man könnte auch sagen: zu entlasten. 

Der platonische Ideenbegriff war damit vielleicht auch der Versuch, sich mit der Qualität und der Sinnfälligkeit (heute würden wir vielleicht von gesellschaftlicher Verantwortung) dessen zu beschäftigen, wie und mit was man die Welt verändern will.

Für manche mag es zu spekulativ wirken, aber damit entstand auch die gedankliche Grundlage zu unserem heutigen Begriff der Innovation, der sich neben der ökonomischen Plausibilität immer auch mit weiteren Kriterien auseinandersetzen muss, um schliesslich erfolgreich in einer Gesellschaft sein zu können.
Vor allem, um akzeptiert zu werden.

Wir wollen weitere historische Denker bzw. Perspektiven überspringen. Interessant erscheint mir allerdings noch, dass in spätantiken Übersetzungen der Ansatz einer platonischen Idee (idea Platonicae) auch mit archetypus übersetzt wurde. Warum?

Ein Archetypus wird sinnbildlich oft mit der grundlegenden Idee, dem auf allem basierenden Bild oder auch dem Urbild beschrieben. Dabei geht es um anthropologische Anlagen und Prägungen, welche das menschliche Wesen in seinem ganzen Sein, also seinen Instinkten, seinen Affekten und letztlich seiner kompletten Existenz dominiert.

Archetypen sind mit dieser Definition menschliche, innewohnende Grundanlagen, welche stärker sind als die einzelne Individualität. Wenn man von der Jugend spricht, von der Pubertät, von den Liebenden oder auch den Trauernden, dann sind kulturelle Differenzierungen vorstellbar, aber es entstehen Urmotive, welche den Archetyp global zu einer Idee, einer gemeinsamen Vorstellung werden lässt. 

Auch in der Philosophie spielt der Begriff des Archetypen, letztlich prägend mit der platonischen Idee verbunden, eine wichtige Rolle. Dabei geht es meist um die Frage nach grundlegenden Ansätzen oder Erklärungen bzw. idealtypischen Motiven. 

Immer dann, wenn eine generelle, eine alles erklärende Formel, ein Urgerüst für ein kognitives Verständnis gesucht wird, spricht man von einer archetypischen Version. Damit ist nach den meisten Philosophen die Erklärbarkeit und damit auch die Vernunft als Gradmesser für eine Form der höheren Logik gemeint, um den Menschen vor allem selbstreferenziell zu verstehen. Man könnte auch sagen: 

Wenn ich den Kern, die Idee des Menschseins verstanden habe, dann habe ich auch seine Handlungen, seine Wünsche, seine Bedürfnisse, seine Ängste und Hoffnungen verstanden.

Welcher Zusammenhang besteht nun zu dem hier behandelten Thema der Idee? Man muss Menschen in ihren allem zugrunde liegenden Anlagen und damit jenen archetypischen Motiven verstehen, um damit den Kern (Nukleus) der eigenen Idee so klar fassen und beschreiben zu können, damit die darauf aufbauende Akzeptanz deutlich wird. Oder eben nicht.

Wenn ich die menschliche Hand verstanden habe, dann habe ich auch verstanden, was sie anfassen, was sie machen will und wie sie die erreichbare Welt in jedem Augenblick gestaltet.


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2020

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