MUSTER

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Jeder Tag soll einmalig sein. Aber das wäre lebensgefährlich. Nur bitte keine Langeweile!

Menschliches Leben ist von Mustern dominiert. Wir suchen zwingend die Wiederholung, da diese zum einen jene Sicherheit bietet, um das eigene und das Leben der Sippe zu schützen, zum anderen ist die Reduktion von individuellen Entscheidungen, also die Nutzung von bekannten Mustern die zentrale Basis, um wiederum den zeitlichen und eben auch sicheren Raum für neue Erfahrungen, überhaupt das Neue zu schaffen. 

Eine von mir seit Jahren gern genutzte Metapher eines typischen Alltagsmuster ist die Routine, die man nach dem Duschen anwendet: Man trocknet den eigenen Körper mit einem Handtuch ab. Dieser Ablauf ist individuell im Detail so weit festgelegt, dass der Prozess intrinsisch, also ohne weiteres Nachdenken abläuft. Warum ist das sinnvoll?
Es sind die der Aufmerksamkeit entrückten Aktivitäten, die unseren Geist für das andere freigeben. Wir können in dieser Zeitinsel des Alltags mehr oder weniger frei über all das Nachdenken, was uns wichtig erscheint. 

Wobei man hier etwas treffender sagen könnte, dass man in diesen Zeiträumen des Tages eher bedacht wird, das heisst, unser Geist scheint sich von unserer zielführenden Entscheidung leicht zu lösen und eigene Wege zu gehen. Man lässt sich, so scheint es, durch ein Netz mehr oder weniger auf einander Bezug nehmender Gedanken führen und findet sich schliesslich bei einem Thema, welches nicht wirklich von uns aktiv und bewusst entschieden wurde. 

Diese Ebenen unseres Bewusstseins scheinen in einer anderen Geschwindigkeit, besser einem anderen, wesentlich offeneren Rhythmus zu funktionieren. Wären wir eine Maschine, dann könnte man diesen Zustand auch Halbautomatik nennen. Dieses Thema wird unter dem Titel Hirnforschung konzentrierter behandelt.

Nun wird die Dominanz des oben genannten Musters beim täglichen Abtrocknen nach dem Duschen durch ein einfaches Experiment deutlich, vor allem als körperliche Erfahrung. 

Wenn man versucht, den Ablauf des Abtrocknen bewusst und im Detail anders zu gestalten als die vielen Male davor, dann wird die Prägungstiefe dieses alltäglichen Ablaufs eben soweit deutlich, dass man nahezu mit leichtem Schwindel, körperlichem Schwanken und der Unsicherheit endet, ob man nun tatsächlich den ganzen Körper abgetrocknet hat oder nicht. 

Dieses Beispiel soll die immersive Dimension alltäglicher, überwiegend unbewusster Abläufe und deren Relevanz für den systemischen Prozess bewusster Entscheidungen und Tätigkeiten deutlich machen. 

Der Begriff der Immersion wird vor allem für Beschreibungen zur sogenannten virtuellen Realität verwendet. Dabei meint man das Eintauchen bzw. das Einbetten visueller [hier: virtueller] Eindrücke, welche bei der jeweiligen Person die Illusion einer gewissen Realität hervorruft. 

Spannend bei diesem Eintauchen ist der Übergang von dem einen zu einem anderen Zustand. Wenn wir das mit dem Prinzip des Übergangs von der Luft unter das Wasser vergleichen, dann ist der exakte Moment jener, an dem wir abrupt die Luft anhalten und uns damit in einen anderen Zustand bringen. 

Die Immersion bei der virtuellen Realität ist eher einer emulsierenden Transformation vergleichbar. Mit einer Metapher gesprochen ist es nicht der abrupte Übergang, ähnlich einem Kippschalter, sondern der kontinuierliche, ähnlich dem eines Lichtdimmers. 

Es nimmt der gewohnten Realität im vergleichbaren Maßstab (reziprok) die Bedeutung, wie sie durch die virtuellen Realität erfahrbar wird. 

Normalerweise würden wir übereinstimmen, dass wir den Unterschied zwischen der echten, der physikalischen Realität und eben der virtuellen eindeutig benennen können. Wenn wir jedoch den Begriff der Virtualität in seiner sprachlichen Wurzel versuchen zu begreifen, dann meint dieser das nicht Echte, das, was nur den Anschein des echten hat, was jedoch echt erscheint, uns glauben machen will, es wäre echt. Es wird deutlich, wie hier das Ziel der Überzeugungspotenz es wäre echt, klar im Mittelpunkt steht. 

All das ist wenig problematisch, so lange die Rückkehr in die echte Welt und damit auch in die individuelle Wirklichkeit ohne Verlust möglich ist. Aber ist dies wirklich der Fall? Ich glaube nicht.

Wenn an anderer Stelle schon über das Prinzip der Prägungen bzw. der Logik von Gewohnheiten spekuliert wurde, dann darf man davon ausgehen, dass wir (als domestizierte, kulturelle Wesen, eigentlich sind wir noch Primaten) gar nicht in der Lage sind, etwas zu sehen, dieses zu erfahren und es dann komplett und ohne Rückstände bzw. Spuren wieder zurückzulassen.

Jede Prägung, im Wortsinn des Begriffes, ändert den Untergrund unserer Existenz um den Effekt der Erfahrung und variiert damit unsere Perspektive, die wir in der Folge auf die von uns wahrgenommene Realität einnehmen können.

Es bleibt also die Frage, was uns tatsächlich echt und damit wirklich erscheint (in Relation zu unserem verletzbaren und vergänglichen Körper) und ab wann wir die angebotene Wirklichkeit irritierend bzw. unwirklich wahrnehmen? So betrachtet sollte der Begriff der Virtualität, mit dem Ziel für ein tieferes Verständnis, von seiner Medienabhängigkeit befreit werden. 

Die Grundlagen für die komplexen Übergänge zwischen den situationsabhängigen Wirklichkeiten liegen vermutlich wesentlich tiefer. Mit den ersten Bildern, welche menschliche Individuen im Fluss der anthropologischen Evolution von sich und der Welt auf Stein gemalt haben, begann die Ablösung des direkt erfahrbaren und suchte sich eine neue, eine reflektorische Bühne. Waren es vor 40.000 Jahren die matt beleuchteten Wände Schutz gebender Höhlen, so sind es heute vor allem digitale Werkzeuge, die zwar in der Summe den Gehalt dessen, was vermittelt werden soll, in einer extremen Geometrie jeder Nachvollziehbarkeit entziehen, im Kern jedoch den Nukleus einer virtuellen Wirkung in sich tragen: 

Die sichtbare Externalisierung einer bewusst erlebten Vorstellung auf ein äusseres Medium oder als ein Artefakt, ist Projektor der individuellen Sicht des Individuums selbst und Reflektor zum Abgleich mit der Vorstellung und damit eine Version derselben.

Der Begriff der Version ist hier wichtig, da damit wiederum die Essenz dessen deutlich wird, was wir unter der Überschrift Muster hier betrachten wollen. Ein Muster ist idealtypisch ein identisches Replikat dessen, was wiederholt werden sollte. Aber auch das ist eine Illusion, da, wenn auch die Version tatsächlich identisch wäre (was wiederum nur in digitaler Form möglich ist), die zweite, dritte und generell mehrfache Wahrnehmung das Gesehene um den Wert dessen ändert, was die Person situativ konkret gesehen hat und was sich über den Lerneffekt bzw. die damit verbundene Erfahrung intrinsisch in der Folge permanent verändert.

Nehmen wir dafür ein einfaches und gerne angeführtes Beispiel:

Auguste und Luis Lumière, 18621954, habe am 13. Februar 1895 ein Patent für einen Kinematographen eingereicht und damit den Start des Films bzw. der Idee eines Kinos begründet.

Wenig später entstand die Legende über eine Filmvorführung des Films Die Ankunft des Zuges auf dem Bahnhof La Ciotat [2] in einer öffentlichen Veranstaltung. Der kurze Film zeigt einfach einen Zug, welcher in die kleine Stadt La Ciotat auf dem Bahnhof einfährt. In der Perspektive nähert sich der Zug aus der Ferne und wird (entsprechend der Wirklichkeit) beim Einfahren in den Bahnhof grösser. Die Zuschauer wiederum haben diese Szene so dramatisch wahrgenommen, dass sie den Eindruck hatten, der Zug würde sie tatsächlich überrollen. Einige sprangen auf und haben den Raum der Veranstaltung in Panik verlassen. 

Sie hatte Angst, der Zug würde wirklich in den Raum fahren.

Dieses relativ bekannte Beispiel zeigt das Prinzip. Die damaligen Zuschauer hatten kein Muster zur Verfügung, um das zu verstehen, was sie an diesem Tag zu sehen bekamen und konnten daher nichts vergleichen. Nichts, was ihnen geholfen hätte, das Angebot (ein unscharfer Zug in schwarz-weiss als Projektion auf einer zweidimensionalen hellen Fläche) einordnen zu können. Es ist klar, dass schon das zweite Betrachten der gleichen Szene anders wahrgenommen werden würde. 

Das alles scheint trivial und mit der Perspektive unserer Gegenwart vollkommen klar. Es ist immer eine Frage der Perspektive, hier vor allem in der Zeit, um die Dimensionen zu verstehen, wie sich Wahrnehmung, Prägungen und die damit verbundene Akzeptanz des Gesehenen verändern. Dieser Gedanke wird bei dem Thema Medienentwicklung weiter vertieft.

Hier und im Zusammenhang, wenn wir von Kommunikation und dem damit verbundenen Einsatz von Medien sprechen, will ich eine hypothetische Formel nennen, die den gravitatorischen Zwang der davor gemachten Aussage, verdeutlichen soll. Dies ist selbstverständlich leichter vorstellbar, wenn wir uns die typische, die tägliche Nutzung digitaler Medien vorstellen.

Die Existenz erfordert Präsenz.

Die Präsenz wird zum Medium.

Das Medium wird zum Symbol.

Das Symbol ersetzt die Existenz.

Wie passt diese hypothetische Formel zu der Überschrift Muster?

Relativ einfach: 

Wie schon in dem dem Text zum Thema Lernen vermerkt, unterscheiden wir zwischen Repitition und Permutation als Merkmal für die Prinzipien dessen, wie sich Kompetenz als Folge von bewusster Beschäftigung mit unserer Welt entwickelt. 

Leben ist demnach Balance zwischen der Wiederholung von Mustern (Repitition) und der darauf aufbauenden Veränderung und Erneuerung (Permutation). Dieser Ansatz wird in der Folge auch zum Thema Ideation weiter behandelt.

Jede menschliche Handlung ist eingebettet in den evolutionären Humus, auf welchem sich die jeweilige Gegenwart permanent neu formt. Und damit auch die Gegenwart jedes Individuums. Streng genommen kann man sagen, dass Muster und deren inklusive Formatierung die Grundlage jeder Aktivität sein müssen, da sonst alles immer wieder von vorne beginnen würde. 

Lernen als rein individueller Akt wäre damit – provokativ gesagt – ausgeschlossen, da die Umwelt von der menschlichen Existenz nicht getrennt betrachtet werden kann. Ginge das, würde jenes Individuum in einer Art sterilem, schwarzen Identitätsloch verschwinden, da es jeden existenziellen Halt verlieren müsste. Schlichtweg, weil jede Existenz nur über die Reflexion mit der Aussenwelt wahrnehmbar ist. Vergleichbar mit dem Frequenzspektrum von Licht, ohne das jedes Ding, welches wir betrachten, zwar noch eine physikalische Präsenz hätte, aber keine visuelle Bedeutung als ikonisches Zeichen oder Objekt erhalten würde.

Nur zur Sicherheit: Das ist als Metapher gemeint und unterscheidet sich von der Blindheit dadurch, dass jedes Sehen durch die physikalischen Möglichkeiten des menschlichen Auges immer ein erster Filter ist sowie durch die Interpretation des Gesehenen weitere [situativ] semantische und kontextuelle Filter durch die mentale Verarbeitung zum Einsatz bringt. 

Das was wir sehen und wahrnehmen ist immer eine Reflexion dessen, was für uns Bedeutung hat. 

Es ist immer das, was innerhalb unserer sozialen und konkreten Situation relevant ist.

Es ist immer eingebettet in den Interpretationsraum der uns umgebenden Gemeinschaft (Gesellschaft).

Damit ist das eigene Sehen und Interpretieren des Betrachteten immer verbunden mit dieser Gemeinschaft und den, wenn auch nur temporären, akzeptierten Konventionen.

Wir können daher ohne die Wahrnehmung der uns umgebenden soziale Realität (auch wenn sie nicht präsent ist) nichts wirklich sehen und unserer Identität zuordnen.

In einer etwas pathetischen Zuspitzung könnte man auch sagen:

Wir sehen immer auch mit den Augen, die uns gesehen haben.

Auf dem Hintergrund dieser Aussage ist Lernen immer ein kontextueller, kausaler und vor allem ein kooperativer bzw. sozialer Vorgang und kann nie isoliert betrachtet werden. 

Einfach darum, da alles, was gelernt wird, durch die Nachhaltigkeit des Vorrats bestimmt ist, was dazu schon von der Gemeinschaft zu einem Thema gedacht und erarbeitet wurde.

Damit kommen wir innerhalb des Themas Muster im Zusammenspiel mit dem Lernen zu einen wesentlichen Aussage:

Lernen bedeutet die Evolution jener Qualität, welche nachfolgend zu einer Verbesserung dessen führt, was dann als Vorlage zum weiteren Lernen genutzt werden kann.

Lernen ist immer eine Kombination aus einem intentionalen (absichtlichen, bewussten) und impliziten bzw. inzidentellen (beiläufigen bzw. unbewussten, eher zufälligen) Prozess. Ich bin davon überzeugt, dass jede Form von Lernen nie nur die eine oder nur die andere Form der Aufnahme und Verwertung von Lerninhalten sein kann. Einfach darum, da die menschliche Psyche diese Trennung zwar logisch, aber nicht faktisch vornehmen kann. 

Der hier beschriebene zwingende Zusammenhang zwischen der Erkennung und dem Vergleich von Mustern sowie dem Lernen als Aggregation kontextueller Inhalte führt in der Folge zu einer Erkenntnis, die sowohl individuell als auch kollektiv verwertbar sein muss, um ihren eigentlichen Sinn zu erhalten.

Auch wenn die ideelle Definition von Lernen als ein Prozess der relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, Denkens oder Fühlens aufgrund von Erfahrung oder neu gewonnenen Einsichten und des Verständnisses (verarbeiteter Wahrnehmung der Umwelt oder Bewusstwerdung eigener Regungen)…. beschrieben wird, so kann man – wenn auch provokativ – den Ansatz traditioneller Bildungssysteme vor allem als Form der Rekapitulation beschreiben. 

Der Bestand dessen (und damit der Muster), was gesellschaftlich als gesichert, als Konvention und damit Norm festgelegt wurde, wird so lange wiederholt, bis es mehr oder weniger identisch wiedergegeben werden kann. 

Das Individuum wird dem Inhalt untergeordnet.

Die Revision wird wichtiger als die Envision. Die eigene, auf dem Bestand der kollektiven Kompetenz (Deutungskompetenz von Mustern und deren Varianten) aufbauende Interpretation wird zwar im Rahmen des akzeptierten [sozialen] Freiraum möglich, aber nicht darüber hinaus. Man kann also sagen:

Muster sind ein inklusiver Teil der kollektiver Konvention in ihrer jeweiligen Zeit. 

Sie setzen den Rahmen für das Zusammenspiel der akzeptieren Norm und dem freien, individuellen Willen.


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2020

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