LERNEN_1

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Wir können nicht nicht lernen. Auch wenn wir es versuchen, wir uns weigern etwas zu lernen, es kommt immer was Neues dazu.

Lernen ist ein komplexer Vorgang. Um grundlegende Positionen entwickeln zu können, ist eine grösser Distanz sinnvoll. Folgende erste Definition soll dazu eine Grundlage anbieten:

Lernen ist die Summe dessen, was Menschen im Zusammenspiel der damit verbundenen Veränderungen in ihrem Leben akzeptieren.

Ein guter Impuls zum Thema, vor allem zum Beginn dieses Essays bzw. Textes zum Thema Lernen, findet sich in dem Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach, 18301916:

Die Summe unserer Erkenntnisse besteht aus dem, was wir gelernt, und dem, was wir vergessen haben. 

Marie Ebner von Eschenbac, 1830 – 1916, mährisch-österreichische Schriftstellerin.

Sie nimmt in diesem Zitat die Essenz des Vorgangs von Lernen vorweg, da sie den Prozess des Verstehens mit der Relevanz der Verwertbarkeit verbindet.
Das was für das Individuum, die einzelne Person bedeutend und damit relevant ist, wird in einen resonanten Zusammenhang mit der Komplexität der eigenen Existenz gebracht. 

Die idealtypische (und damit theoretische) Version des Lernen ist natürlich die optimale Verwertung dessen, was man für das eigene Leben braucht. Vor allem um die uns innewohnenden Potenziale perfekt zum Entwickeln zu verhelfen. 

Das ist natürlich nicht so.

Die Wirkkräfte und damit der Wirkungsgrad der Natur sind dem Menschen hier im Prinzip weit überlegen. Ein durch die Luft fliegender Samen einer Pflanze nutzt in Relation zu den ihn umgebenden Einflussfaktoren das maximale Potenzial der innewohnenden Potenziale zum Wachstum der im Keim vorgesehenen Pflanze. Wäre dem nicht so, würden vom Menschen verlassende (kultivierte) Orte nicht in so kurzer Zeit wieder von der Natur übernommen werden. 

Die Potenzialentfaltung des Menschen hängt aber in direkter Abhängigkeit zu der eigenen prägungsintensiven Geschichte, der konkreten, temporär eingeschränkten, der sozialen Situation und den epigenetischen Anlagen, welche nie statisch, sondern ständig in einem permutativen (regelbasierte Veränderung) Zustand sind.

Kurz zum Thema Epigenetik:
In Kurzform geht die Epigenetik davon aus, dass das Genom (also die Summe eines menschlichen oder virologischen Erbgutes) und die dazu notwendige DNA, Desoxyribonukleinsäure (bzw. RNA – Ribonukleinsäure – bei Viren) keinen statischen Zustand im Körper hat, sondern in einem permanenten Abgleich mit der umgebenden Umwelt steht. 

Die Entwicklung und damit der Überlebenserfolg des Menschen (so die noch überwiegend spekulative Theorie) geht davon aus, dass alle externen Einflussfaktoren die menschliche Entwicklung beeinflussen können. Relativ einfach verständlich ist dies bei bakteriologischen, virologischen bzw. toxischen Einflüssen auf den menschlichen Körper. 

Die Epigenetik geht aber durchaus davon aus, dass im Prinzip die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse des Menschen die körperlichen und mentalen Potenziale veränderlich gestalten können.

Erforderlich ist stattdessen ein ständiges Wechselspiel von Genom und Umwelt. So wie sich die Körperzelle in ihr Gewebe eingliedert, muss sich auch der Organismus auf seinen Lebensraum einstellen.

Das klingt im Zusammenhang des Titels zu diesem Text sehr komplex und weitgreifend. Letztlich folgt es aber im Kern der zentralen Position, dass eben gerade die Komplexität der menschlichen Existenz in der Summe die Basis für konkrete und verwertbare Entscheidungen legt.

Mit einem kurzen Rückblick auf das Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach ist damit gemeint, dass die radikale Filterung der möglichen Lerninhalte (der geregelten, zum Beispiel die Schule oder der ungeregelten, zum Beispiel alle Alltagssituation), mit denen ein Mensch permanent konfrontiert wird, immer elementar ist, um damit einen Lerneffekt zu erzielen.

Dieser Gedanke bedeutet in der Konsequenz, dass Lernen nie isoliert werden kann (zum Beispiel im Gebäude einer Schule), sondern permanent zum Leben gehört. In Ableitung des bekannten Zitats von Paul Watzlawick [2], 19212007, (Man kann nicht nicht kommunizieren) könnte man sagen:

Man kann nicht nicht lernen.

Allerdings, und dies war die Intention der vorangestellten Gedanken, sind diese Faktoren hyperkomplex und in direkter Abhängigkeit zu der jeweiligen Existenz. In anderen Worten liegt es eben nicht nur an dem klassischen Talent oder dem Erbgut (Genom), welches ein Mensch von seinen Vorfahren erhielt, sondern auch an pränatalen, präsozialen und letztlich an dem gesamten Erfahrungsspektrum, das einen Menschen in seiner Lernfähigkeit und damit auch in der Entwicklung seiner Potenziale beeinflusst. 

Zumindest vergleichbar arbeitet eine einzelne menschliche Zelle (von denen wir ca. 30 Billionen, 30 000 000 000 000 in unserem Körper haben). Jede Zelle kann im Durchschnitt 20 000 Gene aktivieren. Das macht sie aber nicht. Den Grossteil davon schaltet sie ab, sie nutzt also nur weniger, idealerweise das relevante Potenzial dessen, was sie zur Überlebensfähigkeit des Körpers (des Menschen) beitragen könnte. Im negativen Fall allerdings, kann die gleiche Zelle jedoch auch falsche Entscheidungen (negativ für den menschlichen Körper) treffen und damit entsprechend destruktiv wirksam werden. Damit entstehen auf der rein körperlich-biologischen Seite Krankheiten. Aber auch die Gesamtheit unserer Existenz ist damit beeinflussbar, also auch alle mentalen und in der Folge emotionalen Lebensrealitäten.

Und in diesem Zusammenhang spielt das Bewusstsein und seine Komplexität eine bedeutende Rolle. Das wollen wir im Weiteren ein wenig näher betrachten.

Da wir unsere Reflexionsfähigkeit nur im Spektrum unseres Wachbewusstseins bzw. dem Teil unseres Bewusstseins beurteilen können, welches wir erinnern, spielt all das, was wir permanent sensorisch aufnehmen und verwerten keine bedeutende Rolle. Vielmehr wären wir in kürzester Zeit überfordert. Unser Gehirn könnte die Masse der Information und Einflüsse, die uns in jeder Sekunde erreichen, bewusst nicht verarbeiten. Wir würden mehr oder weniger sofort kollabieren. 

Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Ein Kind lernt Fahrrad fahren. Dieser Vorgang ist vor allem und zuerst eingebettet in eine vertrauensstiftende Situation. Eine Person, die das Kind kennt und der es vertraut, schafft eine Atmosphäre, indem das lernende Kind eine erste Vorstellung dafür aufbaut, dass es Fahrrad fahren lernt und dann Fahrrad fahren wird. Dies ist für den Lernvorgang elementar, da sich damit das Grundprinzip der Motivation gut erklären lässt. Jede Motivation braucht elementar (im Sinne des Wortes Motivation die Kenntnis für mindestens ein Motiv, warum die Person diese Veränderung in ihrem Leben freiwillig vornehmen möchte (wir gehen hier von der überwiegenden Freiwilligkeit aus).

Nun ist das fahren mit einem Fahrrad, wie man so schön sagt, kinderleicht. Wenn man es kann. Vor allem ist diese Fähigkeit ein gerne genutztes Beispiel dafür, dass man, wenn man einmal gelernt hat, Fahrrad zu fahren, dies nie wieder verlernen wird. 

Die faktische Kompetenz ist allerdings ein komplexes Zusammenspiel zweier physikalischer Kräfte. Zum einen der Gravitation und zum anderen der Fliehkraft, die vor allem bei Kurven wirksam wird. Die Fähigkeit, den eigenen Körper nun auf einem Fahrrad nach vorne bewegen zu können, liegt an einem sehr diffizilen Ineinandergreifen der hier genannten physikalischen Einflussfaktoren. Darüber denkt allerdings ein Kind, das in dem Augenblick lernt, auf einem Fahrrad zu fahren, sicher nicht nach.

Als erwachsener Mensch wird möglicherweise mit den gleichen Gesetzen der Physik die Parabel berechnen, um einen Satelliten in die vorgesehene Umlaufbahn zur Erde zu bringen. Als Kind werden die gleichen Gesetze angewandt, um den eigenen Radius zu erweitern. 

Wie weiter oben beschrieben, ist die maximale Lernfähigkeit in den ersten Lebensjahren mit der für das Überleben akzeptablen Ausschaltung all der Filter zu erreichen, die Menschen in ihrem späteren Leben als Erwachsene bewusst und individuell für sich platzieren. 

In der Psychologie wird hier gerne und in eindringlicher Terminologie vom Urvertrauen gesprochen. Das Kind steht auf einer Mauer, sein Vater steht darunter und es springt. Es springt in die Arme des Vaters, weil es sich (vorausgesetzt, es hat die negative Version dieser Erfahrung noch nicht gemacht) nicht vorstellen kann, dass der Vater es nicht auffangen wird. 

Mit dieser Eindringlichkeit der Relevanz in Bezug auf die Fähigkeit zum Lernen wird auch deutlich, wie wichtig das unbedingte Funktionieren der Eltern für die Kinder ist. Der Unterschied zu einem eigenen Gliedmaß, einem Arm oder einen Bein zu der Person der Mutter, des Vaters oder einer anderen Bezugsperson, wird dem neugeborenen Kind erst im Verlauf des ersten Lebensjahres langsam deutlich und zunehmend klarer. 

Damit beginnt sicher auch der Prozess der Realisierung, dass Existenz immer auch die Trennung zu einer anderen Existenz bedeutet.  

Nun kennt jeder Erwachsene, dass die eigene Lernfähigkeit im Verlauf des zunehmenden Alters scheinbar geringer wird.

Es gibt sicher physiologische Aspekte im Zusammenhang der Hirnentwicklung im Alterungsprozess, welche hier unberücksichtigt bleiben sollen. 

Allerdings möchte ich die Hypothese aufstellen, dass Lernen in einem zwingenden und direkten Verhältnis zur Bereitschaft steht, sich mit neuen, ungewohnten, im besten Sinne auch radikalen Aspekten (und damit Potenzialen) zu konfrontieren. 

Nun ist die Gewohnheit der direkte Feind jeder Neuerung bzw. jeder Veränderung. Eine etablierte Lebensfunktion, und das betrifft auch das äussere Umfeld des Menschen, drängt zur Stetigkeit schon aus Gründen der potenziell höheren Sicherheit, die für die betroffene Person daraus resultiert. 

Wenn Menschen also bereit sind, etwas in ihrem Leben bewusst zu lernen, bedeutet dies auch die Bereitschaft, dies auf Kosten von etwas bekanntem (was sie schon gelernt haben) zu tun.

Diese Feststellung betrifft im Mikrokosmos der alltäglichen Realität, wie auch im Makrokosmos globaler Veränderungen und damit auch bei neuen Produkten oder Dienstleistungen die Frage nach dem positiven Delta. Die Definition bzw. Formel dazu könnte lauten:

Die Bereitschaft zur Veränderung und damit die Bereitschaft zum Lernen ist direkt an den Nutzen gekoppelt, welcher durch diese Veränderung erwartet wird. Der Nutzen [positives Delta] muss grösser sein als der Aufwand, der zu dieser Veränderung und damit zur Verdrängung der Gewohnheit nötig ist.

Nun könnte man vereinfacht sagen, dass dafür ja auch schon der schlichte Glauben genügt. Und tatsächlich spielt der Irrationalismus, also zum Beispiel die schlichte Hoffnung auf eine Besserung eine grosse Rolle und unsere Idee von Kultur, von Religion, von Riten und Ritualen, aber auch die oft schwer verständlichen Prinzipien beim Konsum und der Ökonomie wäre ohne diesen Faktor beim Menschen kaum vorstellbar. 

Menschen handeln oft irrational und glauben gleichzeitig, eine rationale, bewusste Entscheidung getroffen zu haben.

Es wäre vorstellbar, dass dies eben das Opfer ist, welches der Homo sapiens für seine Intelligenz zu zahlen hat. Die Fähigkeit zur Vision, der Kompetenz zum Plan für die eigene absehbare Zukunft führt zwingend zur Spekulation und damit auch zu einem grossen Spektrum möglicher Fehler, welche eben auch die eigene Existenz gefährden könnte.

Wenn diese Aussage zutrifft, ist das Risikospektrum im Umkehrschluss das Potenzial, aus welchem der gleiche Homo sapiens nicht nur direkte Erkenntnis, sondern auch die langfristige Perspektive darüber erlangt, was die richtige und was die falsche Entscheidung ist (oder war).

Dieses Potenzial würde man üblicherweise Erfahrung bezeichnen. Was aber sind Erfahrungen?

Unsere Kultur verklärt, gerne mit der Perspektive von zunehmendem Alter, den Begriff Erfahrung mit einer besonderen Deutungshoheit in komplizierten Situationen, gerne auch grundsätzlich mit mehr Richtigkeit, gar mehr Wahrheit in der Einschätzung für das eine und gegen das andere. Vergleichbar mit der vertikalen Struktur einer autokratischen Organisation, die den Aufstieg eines Mitarbeiters durch die Dauer seiner Tätigkeit automatisiert, ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Kompetenz, wird menschliche Erfahrung gerne im höheren Alter automatisch mit Weisheit gleichgesetzt.

Betrachtet man den Begriff im evolutionären Sinn dessen, was die Natur mit ihren hervorgebrachten Lebensformen vermutlich intendierte, dann ist Erfahrung lediglich ein Kreuzungspunkt innerhalb einer Entwicklung, bei welcher die jeweilige Spezies erfahren hat, was für ihre weitere Entwicklung (und damit meine ich vor allem das schlichte Überleben) besser funktionierte. Und was eben nicht.

So gesehen ist jeder Liebeskummer bei Menschen schlicht auch das. Man hat es überlebt. Man hat die Erfahrung gemacht, dass man (doch) nicht gestorben ist.

Und gleichzeitig sind diese Erfahrungen auch jener Untergrund, der sich im Laufe des Lebens immer weiter ansammelt, der, ähnlich einer Gewohnheit, als eine Form von Inventar aller gesammelten Augenblicke, die Basis für Entscheidungen und auch den Horizont für die Kraft zur Vision generiert. 

In einem Bild (als Metapher) dargestellt, sammelt sich tatsächlich ein imaginärer Hügel, auf dem der Mensch in jeder Situation seines Lebens steht und in alle Richtungen seinen Blick ausrichten kann. Wie jeder Hügel, wie jede Erhebung in einer Landschaft, bietet auch ein höherer Standpunkt meistens einen besseren Überblick und auch einen besseren Blick in eine noch nicht erreichte Ferne.

Mehr noch, es darf vermutet werden, dass mit steigendem Überblick über das komplette Umfeld auch die Fähigkeit und damit die innere Befähigung (man könnte dies auch Mut nennen) zu einem weitergehenden, erhabenen Blick steigt. Die Fähigkeit und damit auch die Kompetenz zu einem innovierenden Blick korreliert wohl mit der Sicherheit, aber eben auch mit der höheren Position, von welcher der Mensch seinen Blick ausrichtet. 

In einer zusammenfassenden Formel könnte man sagen:

Die Kraft zur Vision und Innovation ist eine Kombination aus der Kraft der Idee (in Relation zum Problem) und dem Winkel (in Relation zu einer Geraden), mit welcher eine neue Perspektive in die Zukunft möglich werden soll.

Die Position (Höhe der Perspektive) für diesen Entwurf zu etwas Neuem ist der dritte Faktor und damit mit entscheidend für die Realisierbarkeit der Idee bzw. der Vision.

Warum ist das so? Einfach darum, da jeder Mensch nur eine singuläre Position in einem komplexen sozialen Umfeld (der Gemeinschaft) einnehmen kann und die Bereitschaft und Akzeptanz zu einer Veränderung, die mit einem neuen Vorschlag zusammen hängen würde, immer und unmittelbar damit in Zusammenhang steht.

Bleiben wir für einen Moment bei dem Motiv der Vision, wie oben abstrakt beschrieben.

Man kann sich das einfach und ganz konkret vorstellen. Wenn jemand einen Ball werfen möchte, dann ist die Kraft des Wurfes und der Winkel, mit dem der Ball oberhalb der geraden Sichtachse (Wurfposition) geworfen wird, entscheidend für die Weite des Wurfes. Wenn der Ball mit grosser Kraft zu steil nach oben geworfen wird, dann beschreibt dieser zwar eine Parabel mit grosser Höhe, der Scheitelpunkt dieser Parabel spiegelt aber auch die Kurve, in welcher der Ball wieder in Richtung Boden fällt. 

Umgekehrt erreicht der Ball, wenn er mit einem zu flachen Winkel geworfen wird, auch früher den Boden, da auch hier der Winkel der Parabel ausschlaggebend für die Weite des Wurfes ist.

Jedes Kind kennt, wenn auch nur als intrinsische Erfahrung, das Prinzip, dass die eigene Kraft und der Winkel, mit dem es einen Ball von sich wirft, für die Länge des Wurfes entscheidend ist.

Damit ist auch klar, dass der Wurf, wenn man ihn von einer höheren Position aus von sich wirft, noch weiter fliegt, einfach darum, da der Bogen nach dem Scheitelpunkt der Wurfparabel erst später auf den tiefer liegenden Boden trifft.

Das bedeutet, dass eine hohe Position immer gut ist.
Wenn wir weiter oben im Text von einem gewissen Mut sprachen, der mit steigender Höhe der Position (Erfahrungshügel) zunimmt, dann kennen wir in unserer Umgangssprache auch meistens das Sprichwort Hochmut kommt vor dem Fall

Die Position, hier gleichbedeutend mit der Intensität der (Problem lösenden) Idee oder auch Vision, verbunden mit dem Winkel, mit dem diese Vision eine imaginäre Zukunft ins Visier nimmt, ist ein Gradmesser für den Erfolg, und zwar vor allem dann, wenn das erzielte Ergebnis den Plan der Aktivität erfüllte. 

Wie jedoch oben schon beschrieben. Die Umfeldfaktoren (Einflussfaktoren) sind die relevanten Kriterien, mit denen der Erfolg eines Vorschlages eben nicht nur vorstellbar, sondern auch machbar wird. Oder nicht.

Wenn wir also von Erfahrung sprachen (und hier bewusst nicht den Terminus Wissen verwendet haben), dann spielen all diese Kriterien eine grosse Rolle für das Lernen, für den mehr oder weniger bewussten Input, der in jedem Augenblick die Lebensbasis für Menschen definiert.

Und dazu braucht es permanent neue Einflüsse. Für das Lernen ist jeder neue Einflussfaktor eine Art Düngemittel für das darauffolgende Wachstum und damit auch für die Fähigkeit zum Lernen selbst.

Das Problemfeld der Kombination aus dem schon Gelernten und dem Erfahrenen im Zusammenspiel mit der Lernfähigkeit (psychologisch auch der Lernbereitschaft) wurde schon umfassend beschrieben. Die komplexen Zusammenhänge aller Faktoren, die hier zu einem Lernerfolg führen, egal in welchem Alter, können hier nicht wirklich aufgelöst werden und sind auch nicht das Ziel dieser Gedanken. Im Kern geht es um die Relevanz bzw. der Bereitschaft zu dem Neuen, der neuen Erfahrung als Nährboden (Impuls) für die Fähigkeit zur Veränderung. Diesen Gedanken kann man in der zentralen Formel zusammen fassen:

Lernen ist die Bereitschaft zur Veränderung und damit dem teilweisen Verlust des schon Gelernten, das dabei ersetzt oder mindestens verändert wird.

In einer weiteren Formel könnte man auch sagen:

Lernfähigkeit verläuft korrelativ zu mehr neuen Einflüssen.

Lernunfähigkeit verläuft reziprok zu weniger neuen Einflüssen.

Die Unterscheidung zwischen korrelativ und reziprok ist scheinbar marginal (beide bedeuten wechselseitig) und trotzdem wichtig. Eine Korrelation braucht nicht zwingend einen kausalen Zusammenhang, um ihre Wirkung zu entfalten. Hier ist gerade die neue, unerwartete Kombination der wesentliche Impuls. 

Reziprok hat eine stark kausale Abhängigkeit. Vor allem die lateinische Abstammung von reciprocus, was so viel wie auf demselben Weg zurückkehrend, betont das, was ich mit der oben genannten Unterscheidung zum Ausdruck bringen will.

Das klingt ein wenig kompliziert und doch kennt dies jeder Mensch in vielfältiger Form. Ein schönes Narrativ ist der Urlaub, den Menschen machen. Sie verlassen ihren gewohnten Ort und damit die Position, die ihnen am meisten Sicherheit und Produktivität verleiht. Sie verlassen ihre Umgebung mit einem mehr oder weniger fremden Ziel um sich dort (idealerweise positiv) überraschen zu lassen. 

Wir wollen hier das Phänomen Urlaub als eine relativ neuzeitliche und durch die Möglichkeiten der Transportmittel getriebene Form der Gestaltung von Lebenszeit nicht weiter thematisieren. Bleiben wir bei der schlichten Betrachtung.

Menschen fahren an einen fremden Ort und lassen sich auf Neues ein (Einflussfaktoren). Sie konfrontieren sich mit neuen Varianten zu dem Gewohnten. Kulturelle, technische, strukturelle, formale, immer aber symbolische Unterschiede zu der eigenen Realität zu Hause werden rezipiert und verarbeitet.
Wer kennt nicht die Geschichten aus dem Urlaub und Sätze wie: Ich habe die Zeit viel länger wahrgenommen oder da kam ich auf ganz andere Gedanken und konnte mal so richtig entspannen.

Die Idee Urlaub ist eine schöne Metapher für das Potenzial, das mit der eigenen Fähigkeit zum Lernen und damit der Lernbereitschaft zusammen hängt. Je mehr Menschen bereit sind, sich auf die Varianten des Lebens einzulassen, desto stärker werden sie auch zu Akteuren und damit zu Erfinderinnen und Erfinder.

Desto stärker erhält sich auch ihre Fähigkeit zum Lernen selbst, einfach durch die Offenheit für andere Möglichkeiten. 

Dass sich das älter werden aber auch zu ein Art negativer Schleuse der hier beschriebenen Bereitschaft entwickeln kann, wird in den Gedanken von Douglas Adams, 19522001, dem Autor des Klassikers Per Anhalter durch die Galaxis, erschienen als Hörspiel 1978 und als Buchreihe in den Jahren 1979 bis 1992, sehr gut deutlich:

1. Alles was es schon gab, als Du geboren wurdest, ist normal und gewöhnlich. Diese Dinge werden als natürlich wahrgenommen und halten die Welt am Laufen.

2. Alles was zwischen Deinem 16ten und 36ten Lebensjahr erfunden wird ist neu, aufregend und revolutionär. Und vermutlich kannst Du in dem Bereich sogar Karriere machen.

3. Alles was nach dem 36ten Lebensjahr erfunden wird ist gegen die natürliche Ordnung der Dinge.”

Douglas Adam, 1952 – 2001, britischer Schriftsteller.

Alles Neue birgt ein Risiko. Das Risiko der Gefahr, des Scheitern, der Niederlage. Bertrand Piccard, sagte nach seiner Umrundung der Welt im Jetstrom und damit 12.000 Meter über der Oberfläche unseres Planeten sinngemäß: Wenn ich gewusst hätte, worauf ich mich einlasse, hätte ich mich wahrscheinlich nie in diese Gondel gesetzt. 

Was wäre gewesen, wenn sich die Gebrüder Montgolfier davor gefürchtet hätten, mit dem ersten Heissluftballon in die Lüfte zu steigen?


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2020

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