DAS GEHT ZU WEIT

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Am Anfang war alles eine Frage des Miteinanders, der Gemeinschaft. Es ging um Angebote und die freie Entscheidung. Nun ist alles anders. Beängstigend.

Für mich war von Beginn der Pandemie klar, dass vermutlich nur ein schnell entwickelter Impfstoff das Problem einer weltweiten Pandemie so weit eingrenzen kann, dass sich wieder eine Form der Normalität entwickelt, die diesen Namen auch verdient.

Wobei der Begriff der Normalität nicht mit dem Normativ einer Gesellschaft verwechselt werden sollte. Das Normativ ist, wenigstens in der Soziologie, jenes Regelwerk, welches eine soziale Gruppe sich selbst verordnet, um jenseits gravierender Regelverstösse (zum Beispiel durch Verbrechen), eine funktionierende und stabile Gemeinschaft durch das tägliche Zusammenleben permanent neu zu definieren und damit stets neu zu verhandeln.
Wobei dieser Vorgang vermutlich selten als bewusste Handlung wahrgenommen wird, sondern einfach im Alltäglichen passiert. Letztlich ist dies der Humus, in dem sich wichtige Fragen rund um die Moral und Ethik immer neue Antworten für das richtige Miteinander suchen.

Normalität wiederum ist aus der Perspektive der Soziologie der Teil einer Selbstverständlichkeit, der weder erklärt noch vermittelt werden muss, da sich eine Gesellschaft auf genau diese Form des Zusammenlebens geeinigt hat.
Man könnte sagen, die Normalität ist die Anwendung eines Normativs in der sozialen Realität.
Dabei lohnt es, sich den Unterschied zwischen Geboten, Regeln und Gesetzen klarzumachen, da die Differenzierung derselben jenes Regulativ ermöglicht, wie eine Gesellschaft im Zweifel eingreift, wenn sie sich in ihrem normalen Miteinander gestört fühlt.
Wer mag, kann dazu in dem Essay zum Thema Information weiterlesen.

Wichtig ist mir hier die Betrachtung der Normalität. Die Psychologie definiert dies als ein erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten (Wikipedia).
Das ist ein schöner semantischer Ort zum Verweilen, um darüber ein wenig nachzudenken.
Wenn wir von etwas sprechen, was Menschen wünschen, was sie als gesund empfinden und fördern wollen, dann sind dies Begriffe, die sich mit dem vielleicht wichtigsten verbinden, was menschliches Lebens im Kern ausmacht und sucht: glücklich sein, Glück empfinden wollen.

Meine Definition menschlichen Lebens kann ich einfach so beschreiben:

Alle Menschen werden als Geniesser geboren, sie wollen glücklich sein und suchen einen tieferen Sinn in ihrem Leben, um dann irgendwann zufrieden und gesund zu sterben.

So einfach ist das. So einfach kann das sein.

Das Königreich Bhutan ist ein kleines Land, das an Indien, Tibet und China grenzt. Das kleine Land mit ungefähr 750.000 Einwohnern hat ungefähr die Grösse von Baden Württemberg. Es ist ein Land, das wegen seiner Gebirge nur schwer zugänglich ist. Auf dem Landweg schwer zu erreichen, auf dem Luftweg eine waghalsige Reise. Das Land wirkt wie ein Ort in einer etwas vergessenen und unberührten Nische auf unserem Planeten.

Bhutan definiert den Erfolg seines Landes mit einem sogenannten Bruttonationalglück (Cross National Happiness). Es ist der Versuch, den ökonomischen und rein politischen Faktoren eine den Menschen zugewandte und spirituelle Dimension zu geben. Bereits in dem Rechtskodex im Jahr 1629 steht der Satz:

Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.

Diesem Prinzip, dieses Ziel gilt bis heute in Bhutan.

Ich bin der festen Überzeugung, Glück und Gesundheit sind untrennbare Weggefährten im Leben von Menschen. Dieser Satz soll nicht als eine Form der Weltabgewandtheit verstanden werden. Ich versuche mich in allem, was ich sehe und wahrnehme in einer pluralen, einer konstruktiven und systemischen Betrachtungsweise.
Wie die Dinge zusammenhängen, das beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Es ist einfach spannend, Muster zu erkennen und diese auf einer neuen Ebene mit etwas anderem in Verbindung zu sehen, Ähnlichkeiten zu erkennen und damit die Chance auf eine höhere Erkenntnis zu erlangen.

Seit Beginn dieser globalen Pandemie Ende 2019 in China [2] war mir klar, dass nur ein Impfstoff eine durchdringende Lösung des Problems sein wird. Es war sicher eine herausragende Leistung der an diesem Prozess beteiligten Unternehmen und sicher nicht zuletzt die immensen Subventionen, die dazu führten, dass nun tatsächlich seit einem knappen Jahr funktionierende Impfstoffe zur Verfügung stehen.

Am 19. März 2021 haben Özlem Türeci und Uğur Şahin, die das Unternehmen BionTech gegründet haben, von dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier das grosse Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten (wie die offizielle Bezeichnung lautet). Frank-Walter Steinmeier sagte darin in seiner Rede:

Ein Impfstoff aber hat keine Nationalität – er ist weder deutsch, noch türkisch, er ist auch nicht amerikanisch. Wenn er etwas zeigt, dann, dass Menschen zu Großem und Größtem fähig sind, wenn sie in Freiheit und Respekt füreinander zusammenarbeiten, wenn sie über politische, soziale und kulturelle Grenzen hinweg miteinander etwas Neues wagen, etwas Gutes schaffen und damit unsere Gesellschaft voranbringen.

Frank-Walter Steinmeier

Dieser Satz hätte mit seinem Anspruch auch der Leitsatz für die deutsche Politik und die Fachöffentlichkeit der freien Presse und damit des Journalismus sein können.

Es dauert bei mir sehr lange, bis ich meinen Positivismus, meine Hoffnung auf eine gute Wendung verliere. In den vergangenen Monaten ist dies in einem schleichenden Prozess passiert. Auch ich betrachte die Welt mit verschiedenen Rollen, verschiedenen Aufgaben. Ich blicke auf die Welt als Freund, als Partner, als Vater, aber auch als Gründer einiger Unternehmen, als Berater, als ehrenamtlich Tätiger, als Hochschullehrer, als beobachtender, lesender und schreibender Zeitzeuge, so wie viele andere auch.

Das Folgende entbehrt nicht einer gewissen Tragik und ich schreibe es ohne jeden Hochmut und Freude. Im Gegenteil.

Die Entwicklungen in unserer Gesellschaft nehmen die Form dramatischer Verwerfungen an, die ich so nicht erwartet habe. Es scheint, als wäre jeder – in der Politik gern sogenannte – Kompass verloren gegangen.
Es gab sicher eine verständliche Phase, in der alle, auch die politische Führung sich gut mit einer komplett neuen Situation und der Notwendigkeit zum Lernen erklären konnte. Diese Zeit ist vorbei.

Wäre es nur wahrnehmbare Hilflosigkeit, würde ich mir den Aufwand zu diesen Zeilen nicht machen. Aber es hat sich ein Prozess entwickelt, der wie ein negativistisches Geschwür in die Psyche dieser Gesellschaft vordringt und langsam zu einer Gefahr wird, die sich vielleicht sehr lange nicht mehr heilen lässt.
Ich beobachte teilweise ein komplettes Versagen zu einer vernünftigen, einer den Menschen zugewandten Kommunikation. Vor allem aber irritiert mich eine inzwischen fast schon irre Logik der Argumente, die jede Form der Verhältnismäßigkeit verloren hat.

Es scheint, als wäre die Welt komplett von einer Dominanten bestimmt, einer absolut vorherrschenden Thematik, die jeden pluralen Austausch, jede Form eines kultivierten Austausches, eines Gespräches verhindert.

Als hätte dieser Virus seine Körperlichkeit verändert und wäre zu einem traumatischen Etwas geworden, was in die Köpfe der Menschen eindringt und das Denken verändert, mehr noch, die Idee einer Gemeinschaft, die Fähigkeit zur Empathie und die Bereitschaft zu dem, was eine Demokratie auszeichnen sollte: die Meinungsvielfalt.

Dazu gibt ein schönes Zitat des deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer:

Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.

Hans-Georg Gadamer

Die vergangenen ca. 18 Monate haben manches offengelegt, was bis zu diesem Zeitpunkt nur im Ungefähren sichtbar war, oft verborgen bliebt. Es hat gezeigt, dass unser Schulsystem in einigen Bereichen vor allem dem System selbst dient und nicht den Kindern und Jugendlichen, die in dieser wichtigen Phase ihres Lebens sich auf ihr eigenes Leben vorbereiten. Es hat gezeigt, dass die öffentlichen Behörden (sicher auch aus Gründen fehlender technischer, vor allem digitaler Lösungen) sich in ihren bürokratischen und hierarchischen Strukturen oft selbst im Wege stehen. Das Fehlen von Konsequenzen in diesen öffentlichen Einrichtungen offenbarte eine Art Parallelwelt, die sich von den sozialen Aufgaben in diesem Staat seltsam entkoppelt zu haben schien.

Vor allem aber und dies ist die bitterste Aussage: Es wurde so viel Mittelmäßigkeit in unserer politischen Führung sichtbar, so viel fehlenden Fähigkeit zum strategischen Denken, vor allem aber ein leider geringes Maß zur Empathie gegenüber denen, die diese Menschen gewählt haben, dass es mir zu oft die Sprache verschlagen hat, um dazu nichts mehr sagen zu wollen.
Vermutlich wird die ausstehende Bundestagswahl zu einer irrlichternden Veranstaltung werden, da die meisten wahlberechtigten Menschen kaum mit tiefer Überzeugung ein Kreuz bei einer Partei bzw. einer Person machen werden, diese Partei vertritt.

Das ist eine gefährliche Entwicklung, die man sowohl historisch als auch mit dem Blick auf anderen Länder und Regionen vergleichen muss. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.
Freundlichkeit und Solidarität sind fragile Geschöpfe jedes menschlichen Miteinanders, die jeden Tag neu geübt werden müssen. Und wie alles, was Pflege benötigt, verliert auch diese schon bald eine eigenständige Lebensfähigkeit, sie stirbt. Wenn auch nur langsam und am Anfang unbemerkt.

Die Verhältnismäßigkeit ist in diesem Land verloren gegangen. Menschen dürfen in diesem Land ihr Leben lang rauchen, soviel sie wollen. Die Gemeinschaft verwehrt ihnen nicht die Unterstützung, sollten sie daran erkranken. Menschen dürfen sich ihr Leben lang mit ungesunden, mit fetten, vor allem mit durch Zucker süchtig machende Lebensmittel starke körperliche Schäden zuführen. Die Gemeinschaft verwehrt ihnen nicht die Unterstützung, wenn sie daran erkranken. Menschen dürfen mit ihren Fahrzeugen in Geschwindigkeiten über die Strassen fahren, die mit exponentieller Sicherheit zu schweren Folgen führen, wenn es zu einem Unfall kommt. Niemand würde diesen Menschen dann die Hilfe verweigern.

Diese Liste liesse sich mit Leichtigkeit erweitern. Sie soll nur zeigen, wie die Balance in diesem Land offensichtlich verloren gegangen ist, oder, mit etwas Rest an Positivismus, in eine schwere Schieflage geriet. Es ist immer schwer, wenn man konkrete Namen nennt. Namen, die einer Kritik ein Gesicht geben sollen. Aber es muss sein.

Es sind Politiker wie Wolfgang Schäuble, den ich lange für seine Ausgewogenheit geschätzt habe, der mehr oder weniger direkt zum Denunziantentum aufgerufen hat. Es ist eine Politikerin wie Katrin Göring-Eckardt, die für eine Partei steht, welche ich schon mein Leben lang wähle. Sie hat sich offensichtlich entschlossen, eine Sprache zu wählen, die mich in ihrer Kälte und Undifferenziertheit fassungslos macht. Es sind Politiker wie Karl Lauterbach, der sicher mit manchen seiner Vorhersagen richtig lag, was hier nicht unbetont bleiben soll, der jedoch ein so extremes Maß an fehlender Empathie zu Tage trägt, dass ich oft nicht glaube, was ich von ihm lese oder in Sendungen höre, in denen er in grosser Regelmäßigkeit auftritt.

Und damit komme zu diesem Teil der Öffentlichkeit eines nach seiner Verfassung freien Landes, das sowohl als Kontrollorgan gegenüber der Politik, ihrer Institution, der Wirtschaft und überhaupt als Verfechter von Kultur und Mitmenschlichkeit gelten sollte: die freie Presse und damit den Journalismus.

Es gibt sicher einige sehr positive Beispiele eines konstruktiven Journalismus. Und es ist natürlich klar, dass es Objektivität nur im Prinzip und nicht als reine Form geben kann. Aber die Sprache, die sich in den vergangenen Monaten in der öffentlichen Berichterstattung entwickelt hat, ist vielfach eine Bankrotterklärung derer, die sich auf die Pressefreiheit berufen, diese vertreten und verteidigen.

Die Wortwahl hat vielfach eine perfide Note erhalten, die mich oft erschüttert und sprachlos gemacht hat. Wenn dieses Organ der öffentlichen Meinungsbildung dies nicht selbstkritisch und damit in eigener Sache zur Kenntnis nimmt, sich etwas selbstreflektiver auf die therapeutische Bank zu legen bereit ist, dann wird unsere Gemeinschaft in Zukunft aus den vergangenen Monaten nichts gelernt haben und sich in einem anderen Normativ wiederfinden. Zu dieser neuen Normalität gibt es ja auch schon den passenden Eintrag bei Wikipedia.

Anlass zu diesem Text war ein Beitrag von Henrik M. Broder in der WELT (Springer Verlag), Kalenderwoche 32, 2021.

Henrik M. Broder in der Onlineversion (App) der WELT

Damit wurde für mich eine unsichtbare Grenze überschritten, die nicht akzeptiert werden kann, die ich nicht akzeptiere. Die Aussage von Henrik M. Broder hat jede Form einer akzeptablen kommunikativen Ebene verlassen und damit ein Prinzip berührt. Ein Prinzip, das klar sagt: Das geht zu weit.

Nun hat sich Henrik M. Broder sicher auch in der Vergangenheit nicht als sensibler Kommunikator gezeigt, oft ein sprachlicher Wadenbeisser, der gerne sein Gesicht in der Öffentlichkeit sieht und dem die Wahrnehmung und Verbreitung einer Überschrift wichtiger ist als die Substanz und Wahrhaftigkeit der eigenen Aussage.

Aber wie ganz oben geschrieben. Es geht um das, was sich Menschen wünschen, wie sie gesund werden und gesund bleiben, wie man Menschen fördern kann.
Es geht um das glücklich sein, die tief in der menschlichen Existenz verborgenen Bedürfnisse. In diesen Tiefen findet man auch sehr archaische Formen der Emotion, zum Beispiel der Pein und der Scham.

Mit seinem Beitrag hat sich Henrik M. Broder auf eine Weise gezeigt, dass ich ihm nur sagen kann: Sie sollten sich schämen.

Vielleicht lohnt es sich, den Satz aus dem Rechtskodex des Landes Bhutan aus dem Jahr 1629 noch einmal in Ruhe auf sich wirken zu lassen:

Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2021 (Freitag, 13. August)

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