STORYTELLING [Innovation]

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Geschichten sind ohne Geschichte nicht möglich. Wir erzählen uns das Vergangene, um für das Kommende vorbereitet zu sein. Manchmal erzählen wir uns auch die Zukunft.

Kinder können eine Geschichte immer wieder neu hören. Sie werden nicht müde, der gleichen Geschichte viele Male mit grosser Aufmerksamkeit zu folgen. Vermutlich hören sie, vielleicht auch nur in Nuancen, jedes Mal eine etwas andere, in Teilen neue Geschichte. Auch wenn diese immer aufs Neue von der gleichen Person erzählt wird.

Vermutlich verändern Kinder die Geschichten im Verlauf des Zuhörens. Sie verbinden das Gehörte mit ihrer eigenen Wirklichkeit, ihren Erfahrungen, also den Prägungen, welche sie erfahren haben, und schliesslich mit einem Phänomen: ihrer Fantasie.

Menschen denken in Bildern, mindestens aber in Motiven. Ein Motiv ist wie ein noch unverbundener Teil von etwas Grösserem. Ein Fragment [2] und damit noch etwas Unvollständiges. Etwas, was noch zu etwas Fertigem werden will, was noch geformt werden muss.

Ein Motiv ist jedoch auch der Kern dessen, was dem Grösseren seinen eigentlichen Sinn [2] [3] gibt. Man könnte auch sagen, ein Motiv ist gleichbedeutend mit dem Grund für die Anstrengung, die eigene Lebenszeit überhaupt für etwas Bestimmtes einzusetzen. Wie anders sollten wir den Begriff Motivation verstehen? Wie sollten wir sonst verstehen (lernen), wie und warum wir welche Entscheidung für was treffen.

Ein Fragment kann aus einer offenen Perspektive ein Teil von allem sein, schlicht darum, da sich der Blickwinkel im Prinzip in die Endlosigkeit weiten kann.
Diese besondere Fähigkeit des Menschen, alles in immer grösseren Bildern zu betrachten, weitere Zusammenhänge herzustellen, daraus eine grössere Vision [2] [3] zu bilden, ist vermutlich den Gehirnen der Spezies Mensch vorbehalten. Wir wissen es nicht.

Wir sprechen über Motive, Fragmente und deren Zusammenhänge sowie den Aufwand, die eigene Lebenszeit auf etwas Bestimmtes zu richten. Damit sprechen wir auch von der Wahrnehmung als Ganzes, hier aber eher von der Apperzeption (neulateinisch: adperciperehinzuwahrnehmen).
Das ist die, idealerweise freiwillige, vor allem aber die eindeutig bewusste Aufnahme eines bestimmten Erlebnisses.

Dieses bewusst Aufgenommene unterscheidet sich vom Fluss des Allgemeinen, dem Beiläufigen, bekommt eine herausgehobene Bedeutung und bildet so die Basis dessen, was wir in Erinnerung behalten. Denn wir haben uns dafür entschieden, dies so sehen zu wollen.
Dazu zwei Zitate, die vom Gleichen jeweils ein wenig anders sprechen bzw. spekulieren:

Der Mensch kann zwar tun was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.

Arthur Schopenhauer, 1788 – 1860, deutscher Philosoph

Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.

Jean-Jacques Rousseau, 1712 – 1778, Genfer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist

Über das scheinbar Unbedeutende der Unterschiede dieser beiden Zitate kann man ruhig einen Moment nachdenken.

Wie weiter oben betont, gehe ich bei diesen Gedanken von der Freiwilligkeit aus. Natürlich ist leicht vorstellbar, dass das Bedeutende auch unter Zwang bzw. mit einer gewissen Penetranz auf uns eindringt. In dem Fall können wir uns nicht oder kaum dagegen wehren und sind zu einer besonderen Aufmerksamkeit gezwungen.

Denn es entspricht jenen Regeln, welchen wir in manchen Phasen unseres Lebens unterworfen sind. Man kann dies sicher auch im gegenwärtigen Konzept einer Schule bzw. dem damit verbundenen Bildungssystem erkennen (durch den uniformen Zwang der Lehrpläne).
Es könnte vermutlich auch anders sein.

Bleiben wir bei der Freiwilligkeit. Wir haben weiter oben von dem Motiv als dem Kern von etwas Grösserem gesprochen. Ein Nukleus, der das Wesen dessen in sich trägt, was das Grössere zum Ausdruck bringen will.

Vergleichbar mit einem besonderen Wort in einem Satz, der den Inhalt desselben in die eine oder andere Richtung treiben kann, so ist auch das Motiv die zentrale semantische Einheit. Der Satz selbst muss als logische Bühne verstanden werden und damit jenen Regeln folgen (Syntax), damit die Intention dessen klar wird, was damit zum Ausdruck kommen soll (Pragmatik).

Damit haben wir ein paar relativ wichtige Grundlagen dessen formuliert, was ich mit einer Geschichte als Ergebnis, dem Produkt einer Erzählung meine.
Der Titel dieses Textes ist Storytelling (im Zusammenhang zur Innovation) und ummantelt damit zwei Aspekte, welche man idealerweise für ein besseres Verständnis auseinanderhalten sollte.

Vergleichbar mit dem englischen game und play kann man auch den Titel in story und telling unterscheiden.

Das Erzählen formt die Geschichte. Die Geschichte selbst ist das Ergebnis des Erzählens.
Allerdings ist die Geschichte ohne Zuhörer wie ein Bild ohne jene, die es betrachten; wie ein wohlschmeckendes Gericht auf einem Tisch, ohne die Hungrigen, die das Essen genießen wollen; wie ein fliegender Vogel ohne eine Welt darunter, auf der dieser Vogel ankommen und landen kann.

Eine Geschichte wird erst durch das Erzählen zum Leben erweckt und muss dadurch das Interesse der Zuhörenden wecken (können).

Eine Geschichte ist wie ein Übersetzer, der dem Vergangenen, etwas Möglichem, vielleicht auch etwas Kommendem eine Sprache und eine Stimme gibt. Dieser Unterschied scheint bedeutsam.
Die Geschichte zieht ihre Bedeutung nicht nur aus dem Inhalt, sondern auch von der Form, der Art und Weise, wie sie erzählt wird. Nur so findet sie Gehör, Aufmerksamkeit und damit Bedeutung für jene, die diese Geschichte in der Folge weiter erzählen. Oder auch nicht.

Man kann das in einem anderen Beispiel auch mit einer Lüge vergleichen. Eine Lüge ist das Ergebnis des Lügens, also des Vorgangs, der zu einer Lüge führt. Aber jede Lüge braucht jene, die lügen, also die Lügner.
Doch auch damit wird der Kreis für den Erfolg einer Lüge nicht geschlossen. Ohne jene, die die Lüge glauben, also die Glaubenden [2], verpufft dieselbe im Nichts. Sie findet keinen Untergrund auf dem sie, in welcher Richtung auch immer, Ausbreitung findet.

Geschichten sind eingebunden in Zeiten, in den Fluss einer mehr oder weniger komplexen Chronologie vernetzter Handlungen. Dabei verbindet sie in verschiedenen Episoden (vom griechischen Epeisodion [2]) einzelne Zeitpunkte, die jeweils komplexe Perspektiven eröffnen.
Sie blicken nach vorne, in die Zukunft und beschreiben damit Hoffnungen, Erwartungen oder auch Sorgen und Ängste. Und vieles mehr. Schlicht alles, was menschliches Leben ausmacht.

Sie erinnern sich jedoch auch an das Vergangene, an jenes, was einen prägenden Beitrag für die jeweilige Gegenwart bot (das BedeutsameApperzeption). Diese Vergangenheit ist wiederum Teil einer weiteren Geschichte, weiteren Zeitpunkten und so verdichten wir alles zu dem, was wir mit einer Geschichte zum Ausdruck bringen wollen, das Motiv und damit das Wesentliche.

All dies macht jedoch nur Sinn für die Zuhörenden, wenn die Geschichte eine Relevanz in jener Zeit hat, in der die Geschichte erzählt wird. Ohne diese Relevanz, ohne diese Bedeutung für die jeweilige Gegenwart der Zuhörenden ist jede Geschichte nur Geschichte und damit Vergangenheit.

Nun verbindet sich der Begriff Storytelling auch mit der aktiven Rolle der erzählenden Person. Der Erfolg des telling basiert daher vermutlich im zeitlichen Vorfeld der Erzählung an etwas vergleichbar wichtigem und könnte mit dem Begriff Storylistening beschrieben werden.

Ohne das bewusste Zuhören, besser noch das Hinhören, damit auch der Hingabe, verbunden mit der Geduld für das Überhörte, wie auch der Offenheit für das Unerhörte, ist eine Geschichte vermutlich überwiegend eine unidirektionale Aktivität. Sie diffundiert im resonanzlosen Wiedergeben einer konservierten Erzählung ohne Interesse an einem aktiven Austausch (verbunden mit der Bereitschaft, etwas neues zu lernen).

Die erzählende Person agiert mit der Absicht zur Vermittlung einer Botschaft [2]. Welcher Art auch immer. Damit prägen Menschen, als die kleinste soziale Instanz, ihr direktes Umfeld. Sie überbringen Botschaften, welche mit bestimmten Intentionen verbunden sind, um bei den zuhörenden Personen Bedeutung (Relevanz) zu erlangen und in der Folge Glauben (Spekulation [2]) hervorzurufen.

Mir ist die Redundanz an dieser Stelle bewusst. Für das Folgende scheint es mir allerdings sinnvoll, diesen Aspekt noch einmal zu betonen.

Denn damit verbindet sich der davor genannte Aspekt mit der Logik des Lügens in Verbindung mit den Glaubenden (Gläubigern). Auch eine Lüge muss man glauben, man muss, zumindest bis das Erzählte evident wird, der Geschichte glauben schenken und ihr, je nach der Relevanz für die eigene unmittelbare Realität, auch [aktiv] folgen (wollen).

Wenn etwas so evident ist, dass es keinen Beweis, keinen Beleg für die formulierte Aussage (mit dem Anspruch einer Tatsache) benötigt, spricht man auch von einem Axiom. Doch dies scheint zunehmend eine aussterbende Spezies im kommunikativen Biotop menschlicher Interaktion zu werden.

Zurück zur Evidenz. Wenn etwas evident ist, dann ist es offensichtlich. Man könnte auch sagen, es ist einleuchtend, liegt so klar vor den eigenen Augen, dass sich jeder Zweifel auflöst. Es benötigt keinen weiteren Beweis und wird damit, zumindest für den Zeitraum in welchem der Glauben wirkt, zur Wahrheit, etwas Eindeutigem.

Nun ist das gar nicht so einfach. Zumindest wenn wir uns mit der Frage nach der einen Realität beschäftigen wollen, welche für alle gleich sein soll. Das ist vermutlich nicht so eindeutig wie man glauben mag. Wir wollen es aber gerne glauben, denn dann wäre alles einfacher.
Wir hätten die eine Sicherheit, dass alles Sicht- und Wahrnehmbare für alle Teilnehmenden verbindlich und damit gleich wäre.

Der Konstruktivismus bzw. die unterschiedlichen Theorien dazu bestreiten diese Evidenz der einen Realität und geht vielmehr davon aus, wir würden unsere Wirklichkeit permanent innerhalb unseres sozialen Umfeldes verhandeln. Damit verbunden wäre die Unsicherheit darüber, was für uns alle wahr wäre, damit gleich, also unbestreitbar.

Da wir uns zunehmend in multi-parallelen [digitalen] Welten aufhalten, wird die Frage nach dem Glauben immer fragiler und abstrakter. Die Externalisierung [2] relevanter Aspekte unseres individuellen Lebens unter die digitale Aura der uns begleitenden Technologien führt uns scheinbar reziprok auf uns selbst zurück.

Wir finden uns in der Singularität [2] [3] einer zunehmend diffundierten, vor allem einer stets komplexer werdenden Welt wieder und suchen mit einer ausdauernden Haltlosigkeit nach dem einen Griff, der uns Sicherheit geben soll.

Es fällt uns dabei immer schwerer, diesem Einen und damit auch dem einen Griff Glauben zu schenken, warum unser Wunsch nach Vertrauen (zu können) zunehmend einem Misstrauen weicht, zwingend weichen muss, da die uns verfügbaren Optionen zu viele werden und es uns besser erscheint, im Grundsatz davon auszugehen, es könne das Eine nicht geben, schlimmer noch, dass es nichts gibt, was unser Vertrauen verdient.

Man spricht hier auch von Kontrafaktizität, einem Phänomen, das sich in unserer kollektiven Wahrnehmung immer weiter ausbreitet. Der kollektive Gedanke lautet: Warum sollte ich überhaupt etwas glauben?

Ich will mit den letzten Ausführungen nicht zu viel Dystopie verbreiten. Vielmehr zielen meine Gedanken in Richtung einer zeitunabhängigen Utopie, also dem Blick in eine Zukunft (die in jedem Fall eintreten wird) und über die Schleuse der fliessenden Gegenwart zur allgemein verfügbaren Vergangenheit wird. Eine Vergangenheit, die wir dann entsprechend offen interpretieren und als Beleg für alle Entscheidungen nutzen, mit der wir unsere Zukunft gestalten.

In diesem Kontext treffen wir Vorhersagen, wir spekulieren über das, was kommt bzw. jenes, was wir als wünschenswert erachten. Eine Art des Envisioning, was ich auch gerne Proportage [2] nenne. Vergleichbar mit dem Prinzip einer Reportage erzählen wir uns eine Zukunft, in der die gleichen Prinzipien ihre Wirkmacht entfalten, wie diese auch in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Realitäten geführt haben.

Um in dieser vor uns liegenden Zeit (Zukunft) in unserer Gegenwart handlungsfähig zu bleiben, suchen wir die besten Gründe für das eine und gegen das andere. Man könnte auch sagen, wir hoffen auf jene Argumente, die einen belastbaren Weg in die vor uns liegende Zeit weisen.

Daher will ich als einen der letzten Gedanken in diesem Text mit dem Titel Storytelling einen weiteren [Kunst-] Begriff nennen, dem Storyreasoning. In der Übersetzung aus dem Englischen (reason) kann man dies mit dem deutschen Begriff der Argumentation bezeichnen.

Wir suchen, idealerweise entwickeln wir mit und beim Erzählen jene Argumente, die uns schlüssig erscheinen, die in der Kombination dessen, was wir erwarten und wie wir uns diese Zukunft vorstellen, den meisten Sinn ergeben.

Noch einen letzten Gedanken. Die Überschrift dieses Textes ist Storytelling. Wir sprachen weiter oben von Storylistening. Auch über die Bedeutung eines davon abgeleiteten Begriffs, dem Storyreasoning. Man könnte aber auch von Storyreading sprechen.

Ohne die Gabe, besser die Hingabe, eine Geschichte selbst zu lesen oder zu hören und die damit verbundene Bereitschaft, sich davon verführen zu lassen, im Fluss der Geschichte mitzufließen, verliert sich unsere eigene Fähigkeit zu erzählen eher in einem rekapitulieren [2] [3], einem repetieren dessen, was wir kennen.
Ohne Mut zu etwas Neuem. Eine Geschichte ist jedoch immer mit der Chance verbunden, einen neuen Blick zu wagen, eine andere Sicht einzunehmen.

Wie langweilig wäre Musik, die sich nicht immer neue Klänge [2] [3] ausdenken würde. Wie eintönig wäre Gericht auf einem Tisch mit Freunden, das immer aus den gleichen Zutaten besteht.
Wie gleichförmig wäre ein Raum, der nie verändert würde, der kein Leben und damit auch keine Überraschung zulassen würde.

Zum Abschluss zwei Zitate. Das erste ist von Baruch de Spinoza, 16321677, der das Wesen einer Geschichte treffend in wenigen Worten beschreibt.
Denn jede Geschichte verändert sich um den Wert der Aufmerksamkeit, mit der diese Geschichte gehört wird.

Es kommt sehr selten vor, daß Menschen eine Begebenheit so einfach, wie sie sich zugetragen hat, erzählen, ohne daß sie dem Bericht etwas von ihrer persönlichen Auffassung beimischen.

Baruch de Spinoza, niederländischer Philosoph

Das zweite und letzte Zitat ist von John Cage, 1912 – 1992. Ich hatte vier Jahre vor seinem Tod die Ehre und Freude, ihn während meines Studium der visuellen Kommunikation [2] im Säulengarten der Universität der Künste in Berlin kennenzulernen.
Er saß mit uns in der Sonne im Gras und erzählte. Wir schwiegen und waren fasziniert.

I can’t understand why people are frightened of new ideas.
I’m frightended of the old ones.

John Cage, US-amerikanischer Komponist und Künstler

Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2023

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