SINGULARITÄT DER BELIEBIGKEIT_3 [position]

17 min read

Einen Standpunkt zu haben ist mit der Gefahr verbunden, dass wir damit in Verbindung gebracht werden können. Aber das wollen wir immer weniger.

Leben ohne eine Position [2] [3] ist schwer vorstellbar, kaum denkbar. Jede Existenz auf diesem Planeten benötigt ausreichenden Raum für die Ausbreitung notwendiger Bedürfnisse. Auch die unsere. Wenige Wochen nach unserer Geburt liegen wir auf dem Rücken, unfähig, uns zu drehen, noch lange davon entfernt, uns selbst, also auf unseren Beinen balancierend zu bewegen und blicken nach oben in das Gesicht eines Menschen. Wer auch immer das sein mag, denn ohne diese Person wäre unser Überleben unmöglich.

Irgendwann später in unserem Leben steigen wir vielleicht auf einen Berg, suchen eine Anhöhe, um uns von dieser Position in den verschiedenen Richtungen einen Überblick zu verschaffen. Wir suchen Orientierungspunkte für jenen Weg, für den wir uns in der Folge entscheiden. Die Punkte unserer Orientierung [2] leiten uns in der Folge auf unserem Weg. Sie sind elementar für die Sicherheit generell und damit der Absicherung unserer Entscheidungen.

Wir erfahren und erleben früh in unserem Leben, wie wir Orte mit anderen Menschen teilen. Auch, dass wir diese Orte teilen müssen. Wir lernen, mit dieser Aufteilung kann eine gewisse Hierarchie verbunden sein. Oder es betrifft nur die Logik des Tuns, der Ablauf einer gemeinsamen Tätigkeit. Wir erkennen die Notwendigkeit zu einer sicheren Position zwischen all den anderen Menschen in unserem sozialen Umfeld.

Warum sorgen wir uns um unsere Position im Umfeld anderer? Vielleicht weil wir nicht besonders gross sind, wir eine bestimmte Kompetenz [2] [3] nicht anbieten können, uns zu wenig Zeit zur Verfügung steht oder wir einfach ein weniger länger brauchen, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Vielleicht haben wir einfach generell irgendwelche negative Erfahrungen gemacht, die unser Verhalten hemmen. Es gibt viele Gründe für unsere Unsicherheit mit anderen. Wir machen dabei gerne auch die Erfahrung, wie dynamisch sich Hierarchien entwickeln, sie können sich über die Zeit ändern.
Denken wir nur an die Phase des Erwachsenwerdens und die Zeit mit unseren Eltern. Wie schnell sich hier die soziale Ordnung und damit die Hierarchie in der Familie ändern konnte.

Die anderen sind oft jene, die wir [noch] nicht [gut genug] kennen, zu denen wir [noch] kein Vertrauen [2] haben und damit keine belastbare Beziehung. Es kann jedoch auch sein, dass wir bestimmte Menschen besonders gut kennengelernt haben und daher vorsichtig wurden. Möglicherweise wurde unser Vertrauen enttäuscht und wir haben uns in der Folge für mehr Distanz entschieden. Das ist häufig ein dynamischer Prozess, ein permanentes Lernen ohne nachhaltige Hoffnung auf eine finale Lösung zu der Frage, wie Leben im Grundsatz funktioniert.

Gleichzeitig suchen wir stets die anderen, wir sind nahezu immer bedürftig nach Beziehungen zu anderen Menschen. Wissend, jede Beziehung unterliegt der Veränderung unserer Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit, wie auch nach Freiheit und Unabhängigkeit [2] und damit dem gravitationslosen Abgleich unserer Position in einer mehr oder weniger grossen Gruppe.
Ähnlich dem Phänomen von Staub, welcher sich den physikalischen Regeln der Anziehungskräfte mit Leichtigkeit entzieht. Dazu später mehr.

Denn wir werden als soziale Wesen geboren. Schon aus der Notwendigkeit, dass wir die ersten zwei bis drei Jahre in nahezu umfassender Abhängigkeit von anderen Menschen leben. Ein einmaliger Vorgang in der Natur der Säugetiere.
Ich meine daher den Begriff sozial im Zusammenhang der [zwingenden] Notwendigkeit, uns auf andere Menschen beziehen zu müssen. Einfach um zu überleben. Wir brauchen [manche] andere, um nicht zu sterben. Mir ist klar, wie relativ schlicht diese Erkenntnis anmutet. Schauen wir ein wenig genau hin.

Wenn wir sozial in der Weise verstehen (wollen), uns in andere Menschen einfühlen (zu können) und damit die Fähigkeit (meinen), die Welt aus deren Position zu betrachten, vielleicht auch deren Interessen über unsere eigenen zu stellen, dann sollten wir nicht vergessen: Wir müssen diese Fähigkeit erst auf vielen Umwegen lernen. Ein Leben lang.

Soziales Verhalten und Empathie als inhärenter Teil dessen ist ein zwingender Teil jeder Kultur bzw. einem Kulturraum und damit dem Lernraum, in welchem auch unser Leben stattfindet.
Ich nutze bewusst den Begriff stattfindet, da wir immer in Umfeldbedingungen eingebunden sind, welche anstatt von uns den äusseren Rahmen bilden. Dieser Rahmen ist ein Regelwerk, auf das wir uns beziehen (müssen), da wir uns sonst im Nichts aufhalten würden. Das ist [aktuell] weder möglich noch vorstellbar.

Das Wort anstatt ist eine Präposition, sie verbindet etwas bzw. definiert den Ersatz durch etwas anderes. Meist ganz simpel und alltäglich, aber auch mit grosser Bedeutung für die relative Langfristigkeit unseres Lebens: Ich entscheide mich nicht für eine Pizza, sondern für einen Salat. Ich entscheide mich nicht für die Einladung, sondern bleibe zu Hause und lese ein Buch. Ich entscheide mich nicht für diese Person, sondern für eine andere, denn diese Person liebe ich mehr.

Ohne die Möglichkeiten zu Auswahl wäre unser entwickeltes Bewusstsein reine Energieverschwendung. Aber die Auswahl existiert, sie ist der zwingende Humus jeder Evolution. Noch wichtiger: Die Möglichkeiten der Auswahl entwickelt sich inzwischen exponentiell. Auch dazu später ein wenig mehr.

Gehen wir einen Schritt zurück. Wir vergleichen uns mit Menschen. Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, die für uns eine gewisse Relevanz haben und sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum.
Vergleiche, ob nun körperlich, also wir als Körperwesen in einem Raum oder mental und damit immer auch emotional (denn wie sollen wir das eine von dem anderen trennen?), dienen uns zur Bestimmung der eigenen Position in Relation zur Welt ausserhalb unserer Existenz. Vergleichbar einer [sozialen] Geodäsie, also der Bestimmung eines Ortes auf der endlichen Oberfläche unseres Planeten.

Ich nehme vorweg, dass ich den Begriff eines Planeten (Welt) auch sinnbildlich für unsere Vorstellung desselben meine.

Und diese [unsere] Welt definiert sich durch die Anzahl aller Positionen, welche wir in unserer Wahrnehmung erreichen (können). In der menschlichen Vorstellung im 19. Jahrhundert war die Bezugsgrösse naturgemäß dramatisch kleiner als heute. Wir sagen naturgemäß und meinen damit die sprachliche Herleitung wie die Dinge liegen oder auch den [unseren] Erwartungen entsprechend.

Man könnte meinen, das sei eine Vorgabe aus der Natur und damit ohne die Möglichkeit eines [menschlichen] Widerspruchs. Es ist von Natur so und kann nicht anders sein.
Diese Sicherheit scheint sich aufzulösen, denn wir glauben zunehmend, alles könne auch ganz anders sein. Auch dazu später mehr.

Wer mag, kann sich hier mit der Stoa bzw. dem Stoizimsmus beschäftigen. In diesem Zusammenhang will ich kurz den Begriff der Angemessenheit [2] erwähnen. Wenn etwas angemessen ist, dann verbindet sich mit dem Wort die Frage nach dem [angemessen] auf was oder auf wen?
Wir setzen das eine mit etwas anderem in ein Verhältnis und suchen damit eine vertretbare Position, vielleicht auch einen Standpunkt [2], der belastbar ist, den wir verteidigen können.

Eine Position ist nie isoliert. Sie basiert auf dem permanenten Abgleich mit allen uns umgebenden Positionen.
Diese waren oder sind für uns relevant.
Sie werden relevant.
Oder sie erscheinen uns nur relevant.

Menschen sind Subjekte, wenigstens in der neueren Definition der Philosophie und beschrieben als Wesen, die sich ihrer selbst bewusst sind, sich als eigenständige Person wahrnehmen und damit auch die Differenz [2] zwischen dem inneren [eigenen] Ich und der äusseren Welt [2] als komplexere Realität beschreiben können.

Wenigstens liegt die Möglichkeit dieser Reflexion in der Natur des Menschen. Man könnte auch sagen: Wir spekulieren, dass es so sein muss, das Leben nur so Sinn macht. Dazu gibt es ein schönes Zitat von Søren Kierkegaard, 1813 – 1855:

„Der Mensch ist Geist. Was ist aber Geist? Geist ist das Selbst. Was ist aber das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthesis aus Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis.“

Søren Kierkegaard

Wenn wir den Begriff der Synthese [2] gedanklich mitnehmen, dann agiert eine Person zwingend an Orten und in einem Regelwerk der Vereinigung unterschiedlicher Perspektiven [2] [3] [4] und damit auch Positionen. Das Regelwerk ist in diesem Zusammenhang die Summe aller Konventionen, die einer Person in einer Gesellschaft in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen (ich nenne dies gerne auch social framework). Schlicht darum, um die Motive der eigenen bzw. der gemeinsamen Ziele erreichen zu können.

Ein Mensch, also eine Person, projiziert dabei das Eigene (Innere), reflektiert das andere (Äussere) und generiert daraus permanent das, was wir in der Folge bzw. auf einer höheren Ebene mit dem Begriff Position meinen: Der Konsens als Abgleich unterschiedlicher Wahrnehmungen.

Der Konstruktivismus [2] nennt diesen Vorgang Kopplung und meint damit das Verhandeln einer konsensuellen Welt zwischen unterschiedlichen Individuen. Die Wirklichkeit wird ausgehandelt, idealerweise zum Vorteil beider Seiten geklärt und in der Folge für die Gemeinschaft nutzbar.
Natürlich sind egoistische Motive einer Seite nicht selten, vielleicht sogar der Regelfall.

Man könnte auch sagen, wir Menschen bilden in jedem Augenblick Konsens zwischen uns und unserer Aussenwelt. Wir schaffen lebensnotwendige Sicherheit mit dem spekulativen Blick auf eine stets unsichere Zukunft, generieren damit das persönliche Granulat unserer Erfahrung und machen die Wege (und Umwege) unserer Vergangenheit für uns und für andere nachvollziehbar.

In der analytischen Psychologie [2] wird eine Person abstrahiert, sie wird als Persona bezeichnet. Ein Wesen zwischen Licht und Schatten. Einer der Wortstämme ist personare und meint hindurchtönen.
Im antiken Theater Griechenlands war damit auch die Maske der Schauspieler gemeint: Eine Person auf einer Bühne, die in einem Spiel durch die Maske des Stückes spricht (tönt), in dem sie spielt.
Wer mag, kann hier auf BASIC.BOOK auch folgende Texte zur thematischen Vertiefung lesen: Proportage, Narrative Branding.

Der für uns spannende Aspekt ist, dass eine Persona und damit die Verkörperung oder auch Versinnbildlichung einer Rolle in einem Stück nur von einer Person gespielt werden kann (von wem sonst?).
Diese Person kann jedoch bewusst nichts anderes als einen Teil dieser Rolle darstellen, da sie immer auch etwas anderes darstellt bzw. darstellen muss (personare): Das [unbewusste] Selbst innerhalb der Komplexität der eigenen Existenz.
Wer mag, kann vertiefend hier weiterlesen: Archetyp, kollektives Unbewusstes, Höhlengleichnis.

Ebenfalls in der Antike findet sich eine Art Maschine als Teil des Theaters und seiner Dramaturgie. Eine deux ex machina. Diese Maschine schuf eine Illusion in Form einer übernatürlichen Gestalt, üblicherweise eine Gottheit, die von oben kommend in Richtung der Bühne schwebt und dem Spiel eine unerwartete Wendung gibt.

Mit diesem Bild des Übernatürlichen nehmen wir eine gedankliche Abkürzung zu dem eigentlichen Fokus in diesem Essay: der Künstlichen Intelligenz [2] [3]. Und damit zu einer Art deux ex machina unserer Gegenwart, eine Maschine, die uns mit der Illusion umgarnt, wir könnten [gefühlt] alles, also auch jede Position zu jeder Zeit simulieren und damit jeden Ort besuchen. Dazu ein Leitgedanke:

Die physikalische Welt verliert zunehmend ihren Wert in der Gravitaion der Dinge.

Die digitale Welt transmittiert und simuliert ein imaginäres Potenzial als eine Art Gravitation der Wünsche.

Was meinen wir mit einem Ort im Zusammenhang zu einer Position?
Von einer höheren und abstrakten Perspektive betrachtet ist eine Position in nahezu jeder Richtung möglicher [semantischer] Deutungen ein Ort. Dieser ist wiederum nur durch sein Umfeld definierbar. Ohne ein diesen Ort umgebendes Umfeld gibt es keine Abgrenzung und damit würde dieser Ort seine räumliche Zuordnung verlieren.
Das Umfeld steht wiederum reziprok (wechselseitig) zu diesem Ort. Das bedeutet, der Ort steht innerhalb des umgebenden Umfeldes in alle Richtungen in Beziehungen unterschiedlicher Qualitäten.

Wir sprechen also nicht von einem homogenen Gebilde wenn wir von einem Umfeld sprechen, sondern, in Abhängigkeit der inhärenten Komplexität, von einer Summe unendlicher Orte mit unterschiedlichen Dimensionen [2] welche dieses Umfeld bilden. Mit Dimension meinen wir Ausprägungen, wir könnten übertragen auch von Prominenzen sprechen.
Man kann also feststellen: Es gibt einen Ort nur innerhalb der unermesslichen Summe anderer Orte. Und damit auch einer endlosen Summe potenziell damit verbundenen Positionen. In einem Leitsatz:

Jeder Ort ist systemischer Teil der Summe anderer Orte und damit der endlosen Summe von Positionen in Relation zu diesen Orten.

In einer physikalischen Welt der Gravitation war die Distanz [2] zwischen den Orten das differenzierende Merkmal. Auch in einem zwingenden Bezug auf die Zeit, mit welcher wir uns von dem einen zu einem anderen Ort bewegen konnten.
In einer absolutistisch digitalisierten Welt ist jeder [digitale] Ort mit allen [digitalen] Orten distanzlos verbunden.
Das ist eine zentrale Aussage in diesem Essay.

Das Wort Ort bedeutet im griechischen Topos. In der Geografie spricht man von einem Topozentrum und meint damit einen fixen Punkt in einem Koordinatensystem. In unserem Fall eines Planeten und damit einer Kugel verlaufen diese Koordinaten horizontal zur Oberfläche und könnten eigentlich in alle Richtungen verlaufen, bräuchte man zur Berechnung einer Position nicht günstigerweise den rechten Winkel, damit sich die Linien an den beiden Polen der Kugel wieder treffen können.

Die dritte Achse zur topozentrischen Bestimmung eines Ortes auf unserem Planeten kreuzt den Punkt (in unserer Terminologie ein Ort) als Z-Achse [2] und strebt zur Mitte der Kugel. In der Geografie nennt man dies Geozentrum. Gemeinsam mit dem heliozentrischen [kopernikanischen] Weltbild entsteht damit das, was einen Ort innerhalb unserer [planetaren] Existenz erst ermöglicht (wir sprachen schon davon):
Die Schwerkraft.

Mit der Schwerkraft (im Zusammenspiel mit der Fliehkraft) lernen Kinder Fahrrad fahren, wir können aufrecht gehend [2] [3] auf einen Berg steigen, Bälle können durch die Luft geworfen und wieder gefangen werden, Flugzeuge fliegen von einem Ort zu einem anderen.
Das Prinzip der Gravitation wurde erstmals im Jahr 1687 von Isaac Newton beschrieben, eine qualitative Beschreibung derselben findet sich schon bei René Descartes [2] in seiner Schrift Prinzipien der Philosophie im Jahr 1644.

Das ist für meine Gedanken in diesem Text nicht so wichtig. Wichtig ist jedoch, wenn wir uns alles in einem übertragenen Sinn vorstellen, als eine Form der Allegorie. Die für mich passende Übersetzung aus dem altgriechischen für den Begriff Allegorie wäre eine andere Sprache oder auf andere Weise.
Eine Allegorie steht auch für das Uneigentliche (zb. als Stilfigur in der Rhetorik), das Indirekte und damit auch für eine Form der Beliebigkeit.
Womit wir ein wenig Nähe zur verbindenden Überschrift dieser Texttrilogie herstellen.

Jan Vermeer, 1632 – 1675, hat mit seinem Bild Die Malkunst ein perfektes Vorbild für den Begriff Allegorie erschaffen. Der Künstler malt sich selbst in einem Raum beim Malen. Er positioniert sich an einem [in Proportion [2] [3] und Relation zum Gesamtbild] zentralen Ort, gekennzeichnet durch die Linienführung des Quadratmusters am Boden und setzt sich damit in eine Beziehung (Relation) zu der Person einer jungen Frau, die er malt.

Der Raum selbst und damit diese Szene wird durch einen sich öffnenden Vorhang für den Betrachter überhaupt erst sichtbar. Die Person, die dieses Bild betrachtet, blickt aus ihrer Position und damit von einem anderen Ort auf diese Bühne. Wir erinnern uns an den Begriff einer Persona?

Da das Bild selbst in der letzten Schaffensphase von Jan Vermeer entstand, entsteht auch ein Blick in eine andere Zeit, in die Zeit des 17. Jahrhundert [2] und damit die Perspektive eines Menschen, der in dieser Zeit lebte.

Im Prinzip gilt dies für jedes Bild, jede Perspektive eines Menschen aus jeder individuellen Position. Und sei es auch nur ein Bild, das vor wenigen Sekunden bei Instagram hochgeladen wurde und nun von uns betrachtet werden kann.

Wir interpretieren eine fremde Position immer ausserhalb der eigenen über die Kombinatorik dessen, was wir erkennen bzw. was wir kennen. Dabei gehen wir von Gegebenheiten aus. Zum Beispiel den gültigen Gesetzen der Physik, also der [aktuellen] Tatsache, dass ein Fahrrad an jedem Ort auf diesem Planeten mit der gleichen Geschwindigkeit in die Kurve fahren könnte. Oder die [soziale] Wirkung einer emotionalen Reaktion, die wir in einer bestimmten Situation vergleichbar gezeigt haben.

Wir sprachen weiter oben über die griechische Herleitung Topos für den Ort. In der Geisteswissenschaft meint man damit auch Gemeinplatz [2], ein einprägsames und damit vorgeprägtes Sprachbild, also eine Metapher und damit auch ein Motiv [2] [3] [4], welches stereotypisch für etwas anderes steht, dieses idealerweise sinnbildlich vermittelt und – noch besser – damit einfacher verständlich macht.

Wie bei der Interpretation des Bildes von Vermeer machen wir uns ein Bild, wissend, dass dieses Bild nur eine Melange (Mischung) dessen sein kann, was wir sehen (können) und in Relation zu all dem steht, was wir schon gesehen bzw. erfahren haben. Und damit auch die Frage berührt, wie wir lernen [2] [3].

Etwas zugespitzt könnte man sagen, das Leben generell, jede menschliche Existenz kommt einem Topos gleich, einem Gemeinplatz (aus dem altgriechischen tópos), der immer von einer anderen Person als Instanz übersetzt werden muss, damit wir uns [kommunikativ] verstehen.
Ich spreche hier bewusst von einer Instanz, da wir im gewissen Sinne immer gegenseitig Recht sprechen [2] und damit die Bedeutung, gleichwohl auch die Richtigkeit der Inhalte, welche wir austauschen, bestätigen. Oder auch ablehnen. Wir erinnern uns an den Konstruktivismus?

Diese ausführliche theoretische Betrachtung zum Titel dieses Textes war mir wichtig. Im Folgenden konzentriere ich mich auf den Kerngedanken in diesem Essay.

Dieser Text ist der letzte Teil einer Trilogie unter dem Haupttitel Die Singularität der Beliebigkeit. Die ersten beiden Texte basierten auf drei Positionen, welche ich unter der Überschrift Systemic Economy_1 im März 2021 auf diesem Textportal veröffentlicht habe. Die Positionen selbst habe erstmalig ich im Jahr 2002 in einem Vortrag öffentlich verwendet. In beiden Fällen nur mit einer kurzen Erläuterung zu jedem einzelnen der drei Leitgedanken (hier nur noch jener zum thematischen Inhalt dieses Textes):

Das Objekt wird zum Komplex

Die Funktion wird zum Kontext

Die Position wird zur Relation

Wir vermeiden eine eigene Position und damit den Mut zu deren Verteidigung zugunsten der Suche nach dem permanenten Abgleich mit ähnlich Denkenden. Der Zwang zum Vergleich mit einer virtuellen Öffentlichkeit entwertet in der Folge die Bedeutung der eigenen Wahrnehmung und der damit verbundenen persönlichen Meinung. Wir reduzieren und isolieren damit unsere Person.
[In der Folge verlieren wir zunehmend das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Die Welt spiegelt sich in immer kleineren Gebilden der externalisierten Themen jedes Einzelnen. Wir nennen dies heute gerne Social Media, verbinden damit die Hoffnung, Teil einer grösseren Welt zu sein und verbinden dies mit der Überhöhung unserer individuellen Möglichkeiten.]

Wer bis hierhin gelesen hat, wird sich vermutlich fragen, wie sich diese drei Texte im Kern unterscheiden. Es ist ganz einfach. Das tun sie nicht. Der Kern ist identisch, ich versuche lediglich, von dort aus in unterschiedliche Richtungen zu schauen und auf einer Art Textreise die Fundstücke zu einem gemeinsamen Bild zu fügen.

Die Singularität der Beliebigkeit [Objekt > Komplex] [Funktion > Kontext] [Position > Relation]

E. M. Foster, 1879 – 1970, hat im Jahr 1909, also im Alter von 30 Jahren, ein schmales Buch mit dem Titel Die Maschine steht still geschrieben. Jaron Lanier, * 1960, ein zentraler Vordenker zum Thema Virtuelle Realität [2] hat in seinem Vorwort einer Neuauflage des Buches geschrieben: Das ist vermutlich die früheste und wahrscheinlich auch heute noch treffendste Beschreibung des Internets. Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat.

Ein paar Auszüge aus dem Buch:

Die Knöpfe und Schalter waren überall. Mit ihnen ließ sich Nahrung, Musik und Kleidung anfordern. Es gab einen Knopf für Warmbäder, … einen Knopf für Kaltbäder. Es gab einen Knopf für Literatur. Und natürlich gab es jene Knöpfe, die es ihr ermöglichten, mit ihren Freunden zu kommunizieren.

Als nächstes betätigte sie wieder den Isolationsknopf, und die Anfragen der letzten drei
Minuten stürzten auf sie ein. Der Raum war vom Lärm der Klingeln und Kommuniktionsröhren erfüllt.

Den meisten Fragen begegnete sie mit einer gewissen Gereiztheit, ein Wesenszug, der in
jenem beschleunigten Zeitalter um sich griff.

In jenen Tagen reiste man nur selten, denn aufgrund des Fortschritts sah die Erde überall
gleich aus.
 

Das Jahr 1909 war sicher eine Zeit des [industriellen] Aufbruchs. In diesem Jahr wirkte auch Nikola Tesla, 18851943. Der spätere Namensgeber des Unternehmens Tesla meldete damals ein Patent für eine Scheibenläuferturbine an.
Fritz Hofmann, 18661956, Mitarbeiter des Farbenunternehmens Bayer, erfand ein Verfahren für künstlichen Kautschuk und damit einen Vorläufer späterer Kunststoffe.
Hans Geiger, 18821945, und Ernest Marsden, 1889 – 1970, untersuchten die Streuung von Alphateilchen und entwickelten damit die Grundlage späterer Batterietypen wie der Isotopnebatterie oder der Radionuklidbatterie, die in einer Frühphase der Entwicklung von Herzschrittmachern dort ihre erste Verwendung fanden (diese enthielten noch ca. 200 mg Plutonium).

Warum ist diese Liste einiger Entwicklungen aus dem Jahr 1909 wichtig? Ich spreche hier gerne von Einflussfaktoren, die in der Summe ihres Zusammenspiels zu einer exponentiellen Wirkmächtigkeit führen (müssen).

E. M. Forster war ein Kind seiner Zeit. Und er scheint ein konzentrischer Denker gewesen zu sein. Ein Rezeptor, der den potenziellen Möglichkeiten Raum gelassen hat und damit den Weg zu einer Visionskraft bereitete, die keine Sicherheiten anbot, aber vorstellbare Ideen, welche bis heute ihre Relevanz behalten haben.

Wenn wir mit dieser Intention auf den letzten Teil dieser Trilogie blicken, dann will ich mit den Leserinnen und Lesern ein paar radikale Perspektiven teilen.

Der Leitgedanke Die Position wird zur Relation trägt die Intention bzw. den Nukleus der hier formulierten Gedanken schon in sich: Wenn wir Position im Grundsatz einfach als fixierten Punkt und Relation als unfixiertes Verhältnis beschreiben, dann spreche ich im Grunde von einer Diffundierung der menschlichen Existenz als individuelles Subjekt.

Das klingt für manche sicher fatalistisch. Auch für mich. Was ich meine, ist ein Prozess der Vermischung; der mentalen, vor allem der emotionalen Auflösung einer klaren eigenständigen Position und der Hinwendung in relative Verbindungen mit scheinbaren Realitäten.

Der Trigger ist unser Gefühl der Kontrolle innerhalb der Auflösung jeder Kontrolle, da unter der für uns sichtbaren Oberfläche ein diskretes [2] [3], ein binäres Rhizom zunehmend die Kontrolle über unsere Lebenstauglichkeit übernimmt.

Wir scheinen es gar nicht zu bemerken. Die umfassende digitale Aura [2] [3], welche sich in unserem Leben ausbreitet, wirkt wie ein erratischer Emulgator. Ein irrer, ein verwirrender Hilfsstoff, der scheinbar das Unmögliche für uns verbindet und uns tatsächlich glauben macht, all das wäre real, was wir in einer zunehmend durch-kybernetisierten Welt mit einem Touch auslösen (können).

Der absolutistische bzw. der transmittierende [2] Grad der Digitalisierung verändert nicht nur unsere äussere, sondern auch unsere innere Welt. Die Physik wird in Relation zu den Potenzialen digitaler Lösungen (richtigerweise sprechen wir hier nicht von Produkten in der tradierten Vorstellung) immer langsamer bzw. verliert den Anschluss.
Dort, wo der reale Ort, das reale Ding noch seine Berechtigung findet, verliert es entweder seinen ökonomischen bzw. ideelen Wert oder wird zu einem luxeriösen Artefakt, ein Einzelstück, dass die persönliche Hybris zu bedienen hat. Denken wir in einem Beispiel nur an NFT in der Kunst.

Jens Soentgen, * 1967, Philosoph und Chemiker, hat im Jahr 2022 ein Buch mit dem Titel Staub – Alles über fast nichts veröffentlicht. Darin beschreibt er das Phänomen Staub als einen Teil der Physik, dem man nirgendwo entrinnen kann. Vor allem beschreibt er einen besonderen Effekt von Staub, welcher von der Physik mit grosser Beharrlichkeit übersehen, besser ignoriert wird:
Die Vorstellung unserer Welt, die ihre Kernbestimmung durch die Gravitation der Dinge erhält, alles erhielte seinen Platz durch das Prinzip der Schwerkraft, wird durch Staub ad absurdum geführt.
Nur zur Erinnerung zwei Leitgedanken dazu von weiter oben in diesem Text:

Die physikalische Welt verliert zunehmend ihren Wert in der Gravitaion der Dinge.

Die digitale Welt transmittiert und simuliert ein imaginäres Potenzial als eine Art Gravitation der Wünsche.

Staub ist ein Phänomen, da die Masse eines einzelnen Staubkorns kleiner ist als seine Oberfläche. Dadurch entzieht sich dieses Ding der Gravitation, es kann im wahrsten Sinne durchdringend, eindringend und damit komplett immersiv [2] [2] sein.

Wie das Mikrobiom generell, ich meine speziell das Mikrobiom des Menschen, sind wir inzwischen auf dem Weg, humanoide Wesen zu werden.

Digitalität [2] [3] ist dabei nicht nur ein externalisierter Aspekt unseres Alltags, ein praktisches Extra, ein Smart-Effekt in unserer körperlich erreichbaren Welt, vergleichbar dem Helferlein in dem Comic Daniel Düsentrieb, es ist ein internalisiertes Prinzip unseres Denkens, unserer damit verbundenen Handlungen, also auch den Ergebnissen derselben.

Man könnte auch sagen: Die menschliche Spezies löst sich zunehmend in einer digitalen Ursuppe [2] auf bzw. formiert sich unter den Gegebenheiten digitaler Effekte sowohl im Mikrokosmos [2] des individuellen Alltags, aber auch im Makrokosmos globaler Anforderungen neu.
Wie gesagt, all das ist eine Provokation mit dem Ziel der Erkennung von Potenzialen, wie auch den Gefahren, die mit den Entwicklungen verbunden sind.

Wenn wir das Prinzip der Digitalität technisch betrachten, dann geht es immer um ein diskretes Signal. [2]. Ein einfaches Beispiel ist die digitale Uhr. Die Zeit, also der Lauf der Erde um die Sonne, ist ein kontinuierlicher Vorgang. Es gibt keinerlei Brüche. Das ist ein beruhigender und gleichzeitig der etwas empörende Aspekt von Zeit. Wir können ihr nicht entrinnen.

Um Zeit digital darzustellen, müssen wir dieses Kontinuum in diskrete Signale übersetzen, möglichst exakt, möglichst präzise. Aber in jedem Fall ist es eine Übertragung, eine Simulation der Zeit selbst und damit, wenn auch vollkommen irrelevant, nicht so genau wir die Zeit selbst.

Wir sprechen von einem Filter und dieser reduziert das eindringende Signal (Input) um den Wert dessen, was für das gewünschte Ergebnis notwendig ist (Output).
Wir könnten das auch eine Form der Katalyse nennen. Es geht um eine [digitale] Optimierung bzw. Variante, eine Beschleunigung oder auch einfach nur eine bestimmte Sichtbarmachung, die ohne diesen Filter nicht möglich wäre. Soweit so gut?

Wenn wir diesen Gedanken für einen Moment als mentale Bühne behalten, dann scheinen wir heute unser komplettes Leben zunehmend in diskrete, also in digitalisierte Prozesse zu verlegen. Das wäre erst mal nicht so schlimm, bedenkt man an all die Vorteile, die damit im Alltag verbunden sind. All das, was wir beim Einsteigen in einen Bus noch schnell bestellen oder wem wir noch einen flotten Gruss zum Geburtstag schicken können, den wir fast vergessen hätten.
Was bedenkenswert ist, das ist die damit verbundene Unverbindlichkeit, welche sich zunehmend in unsere Wahrnehmung bzw. in die damit applizierte Realität hineinfrisst.

Unser Leben wird zu einem Undo-Supergrid, ein mentales Biotop der Beliebigkeit und Austauschbarkeit [2]. Wir scheinen uns der Allmächtigkeit hingeben zu wollen, tatsächlich für nichts bzw. kaum etwas einstehen zu müssen und trotzdem nahezu alles erreichen, alles tun zu können.
Die alte Idee einer Weltformel wird langsam zu einem singulären Ort der Hoffnung in unserer digitalen Parallelwelt. Wir erleben Beziehungen zu anderen Menschen zunehmend als eine Art Asset, ein verwertbarer Aspekt für die Erreichung unserer Ziele.

Diese Feststellung ist nicht so erstaunlich, sie ist Teil der menschlichen Kultur bzw. der Anthropologie überhaupt, da das Leben unserer Spezies vornehmlich durch Motiv-Determinismus gesteuert ist, man könnte es auch Motiv-Prospektion nennen. Wir tun nichts, ohne wenigstens eine winzig kleine Vorstellung davon zu erhalten, welchen Vorteil unser Handeln für uns haben könnte. Doch auch das ist nicht das Problem.

Das Problem entsteht erst dann, wenn wir in dieser Vorstellung der generellen Machbarkeit zu aseptischen Personen werden, zu sozial keimfreien Wesen, deren Position in der Ursuppe ihrer Community aufgeht und nur noch als ein digitales Flimmern in Verbindung mit einem Symbol unserer Existenz wahrnehmbar ist. Dazu vier Leitgedanken, die auch hier passen:

Die Existenz erfordert Präsenz.

Die Präsenz wird zum Medium.

Das Medium wird zum Symbol.

Das Symbol ersetzt die Existenz.

Vieles scheint sich in der Konsequenzlosigkeit aufzulösen. Unser Pseudonym wird zu einem Schlüssel beliebiger Positionen, zu einer Maske, die wir nach Bedarf wechseln können.

Wie in der Pornoindustrie wird der Kick der Befriedigung [2] mit immer krasseren Angeboten erreicht bzw. überlagert das, was wir uns möglicherweise wirklich wünschen (wenn wir wirklich könnten):

Eine wahrhaftige und aufrichtige, eine wirklich eigene Idee von dem, was uns wichtig ist, für was wir stehen, wo wir stehen und wohin wir uns in den Grenzen unseres Lebens bewegen wollen.

Die Entropie [2] ist hier gegen uns, alles wird zerfallen. Das soziale Rhizom, das unsere wirklichen Verbindungen speichert, hat eine andere Halbwertzeit [2].

Das ist ein wenig beruhigend.

Vielleicht auch nicht.

Für alle, die gerne den ersten Teil lesen wollen: SINGULARITÄT DER BELIEBIGKEIT_1 [objekt]

Für alle, die gerne den zweiten Teil lesen wollen: SINGULARITÄT DER BELIEBIGKEIT_2 [funktion]


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2023:

Die Nutzung dieses Textes ist wie folgt möglich:

01 Bei Textauszügen in Ausschnitten, zum Beispiel als Zitate (unter einem Zitat verstehe ich einen Satz oder ein, maximal zwei Abschnitte), bitte immer als Quelle meinen Namen nennen. Dafür ist keine Anfrage bei mir notwendig.

02 Wenn ein Text komplett und ohne jede Form einer kommerziellen Nutzung verwendet wird, bitte immer bei mir per Mail anfragen. In der Regel antworte ich innerhalb von maximal 48 Stunden.

03 Wenn ein Text in Ausschnitten oder komplett für eine kommerzielle Nutzung verwendet werden soll, bitte in jedem Fall mit mir Kontakt (per Mail) aufnehmen. Ob in diesem Fall ein Honorar bezahlt werden muss, kann dann besprochen und geklärt werden.

Ich setze in jedem Fall auf Eure / Ihre Aufrichtigkeit.

FRAGEN & ANTWORTEN

Carl Frech
6 min read

NEONARZISSMUS_2 [hybris]

Carl Frech
14 min read