ETHIK

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Ist es die Anhäufung der Dinge oder die Erinnerung an die wertvollen Momente? Welche Rolle spielen wir?

In der historischen Perspektive scheint ein Grundproblem in der Einordnung des Begriffes Ethik und damit sein konkreter Wert für eine Gesellschaft in dem etwas angestrengten Anspruch der philosophischen Abgrenzung zu liegen. 

Lag der Ursprung der Definition schon bei den Sophisten, die den Ansatz verfolgten, es sei für ein Vernunftwesen wie den Menschen unangemessen, wenn dessen Handeln ausschliesslich von Konventionen und Traditionen geleitet wird, so war es auf der Basis grundlegender Gedanken dazu von Sokrates, schliesslich Aristoteles, der die Ethik zu einer philosophischen Disziplin erhob und damit die Vernunft, das reflektierenden Denken über die eigene Existenz, über tradiertes bzw. rituelles Handeln stellte. 

Gleichzeitig waren und sind die Fliehkräfte hin zu einer irrationalen Position, wie sie jeder Religion und damit jedem auf Konventionen beruhenden, also überlieferten Ritus innewohnt, nie aus einer menschlichen Perspektive dividierbar.

Auch wenn die theologische Ethik erst sehr viel später unter diesem Begriff innerhalb der Philosophie auftrat, so war sie in frühesten jüdischen und christlichen Schriften und damit Überlieferungen mit der Frage nach dem Guten bzw. dem moralischen Impetus des Menschen beschäftigt, also der Frage nach seinem Antrieb, sich so oder anders zu verhalten. 

Nun ist die Frage nach dem Guten, wie die Frage nach der unumstösslichen, einer Maxime folgenden Regel, ebenso den sittlichen und machtstrukturellen Schwankungen der Zeit unterworfen.
Wer will das Gute final definieren? 

Letztlich sind Menschen immer ein Opfer, neutraler ausgedrückt, sind Menschen immer im Spannungsfeld zwischen dem was sie wissen und dem, was sie glauben. 

Marvin Minsky unterscheidet hier die Kategorien der Tatsache, der Meinung und des Glaubens. Diese Unterscheidung ist Teil jeder Differenzierung in unserer alltäglichen Sprachordnung:

Der rote Ball liegt im Garten im Gebüsch. [Tatsache]

Ich meine, der rote Ball liegt im Garten im Gebüsch. [Meinung]

Ich glaube, der rote Ball liegt im Garten im Gebüsch. [Glauben]

Ich würde das Spektrum der formalen Einschätzungen erweitern um das die Erinnerung und die Hoffnung:

Ich erinnere, der Ball liegt im Garten im Gebüsch. [Erinnerung]

Ich hoffe, der Ball liegt im Garten im Gebüsch. [Hoffnung]

Man könnte sprachlich noch feinere Unterscheidungen vornehmen. Klar wird, dass die jeweilige Aussage durch eine Distanz zur Festlegung und damit auch durch einen Interpretationsraum gekennzeichnet ist.

Je nach der sprachlichen Bedeutung und Verwertung entsteht eine gewisse Diffusion, also die intentionslose, ungesteuerte Verbreitung möglicher Inhalte [und deren offene Interpretation] oder möglicherweise als Intention des Sprechenden, eine Form der Dissemination, also ein gesteuertes Ausbreiten [von Aussagen] ein Aussäen in ein bestimmtes, für die Interpretation dann frei gegebenes Umfeld.

Das Prinzip der Diffusion ist also das gleichmäßige, gleichgeordnete und damit wertfreie Ausbreiten von Inhalten [vergleichbar mit Gasen oder ähnlichen Stoffen – in Ableitung des Begriffes aus der Physik, speziell Thermophysik]. 

Das Prinzip der Dissemination ist das auf einen Ursprung zurückgehende, gesteuerte und damit auch bestimmte Bereiche ausschliessende Ausbreiten von Inhalten [zum Beispiel Krankheitserreger, die einen konkreten Ursprung, also Auslöser haben und sich dann weiträumig, aber in jedem Fall zielgerichtet, also intentional ausbreiten – in Ableitung des Begriffes aus der Medizin, speziell der Onkologie].

Nun ist die Frage berechtigt, was diese gedanklichen Umwege mit dem Thema Ethik zu tun haben? 

Wie schon beschrieben, ist die Ethik das methodische Nachdenken über die Moral und damit auch die Reflexion darüber. 

Meine Hypothese ist, dass eine Trennung zwischen einer rationalisierenden Ethik und der faktischen, handlungsorientierten Moral mit dem menschlichen Geist nicht leistbar ist. Anders ausgedrückt wäre eine abstrakte und damit neutrale Betrachtung von Moral nur dann möglich, wenn diese ohne jede [beeinflussende] Erfahrung im identischen oder vergleichbaren sozialen und kulturellen Umfeld denkbar wäre. Und genau das ist sie nicht.
Schlicht und einfach deshalb, da jede menschliche Artikulation immer nur nach einer gewissen Lern-, Erfahrungs- und Prägungsphase innerhalb eines Lebens möglich ist. Und diese Phase führt logischerweise zu intrinsischen, besser zu intuitiven und Impulsen folgenden Perspektiven. 

Ethik folgt demnach entlang von Eskalationsstufen einer gewissen Reihenfolge. Man könnte sagen, dass evolutionär bedeutsame und biologisch erklärbare körperliche Reaktionen wie Ekel oder auch sozial [in der Adoleszenz] wichtige Gefühlsregungen wie Peinlichkeit [nicht zu verwechseln mit der Pein] aber auch Basisemotionen [Primäraffekte] wie Traurigkeit, die letztlich die Zugehörigkeit zu einer Sippe definiert [im Falle des Todes eines Sippenmitglieds], zu dem Grundgerüst der jeweiligen Moral gehören. 

Man könnte dem Begriff Moral noch die Sitte voranstellen. Eine Sitte ist letztlich eine Art der Norm, welche durch Wiederholung über Generationen innerhalb der sozialen Gruppe, in die man hineingeboren wurde, festgelegt wurde (und über die konkrete Handlung immer wieder neu ausgelegt und damit verändert wird). 

Man spricht dann auch von der Tradition als die übergeordnete Instanz und den mehr oder weniger bedeutsamen Ritualen, die vor allem der einem Intervall folgenden Versicherung dienen, dass man in der Gemeinschaft sicher und richtig beheimatet ist.

Wenn man diese Beschreibungen in eine eskalierende Reihenfolge bringen will, ergibt sich folgender Aufbau als Vorschlag:

– Körperliche Reaktionen (z. B. Ekel)
– Soziale Differenzierung (z. B. Peinlichkeit, Trotz, Reaktanz)
– Basisemotionen (z. B. Traurigkeit)
– Sitten
– Traditionen
– Rituale
– (Heimat)
– Moral
– Ethik

In all diesen eher formalistischen Beschreibungen fehlt jedoch eine Instanz, die nur sehr schwer eingrenzbar ist: das Gewissen. Jede Beschreibung des menschlichen Gewissens entzieht sich aber einer bestimmten [kurzen] Distanz vollkommen der Klarheit. 

Historisch wird der Begriff in seiner Bedeutung eng mit Martin Luther in Verbindung gebracht, allerdings eher im Zusammenhang mit dem Ansatz von verstärktem Wissen (der Gewissheit) und damit auch ganz im Sinne der Aufklärung und Reform der damaligen vorherrschenden Theologie als das, was der aufgeklärte, wissende Mensch haben muss, einfach darum, da er über das Wissen verfügt. 

Letztlich könnte man sagen, dass das Gewissen eine sozial determinierte Instanz ist, die [auch] zur Kontrolle des einzelnen Verhaltens in einer Gruppe dient. Mit einem einfachen Beispiel wird dies deutlich: 

Kinder sind in den ersten Monaten ihres Lebens mehr oder weniger komplett auf Formen der emotionalen Interaktion mit ihrer Umwelt angewiesen. Der Vorteil ihrer Sprachlosigkeit führt dazu, dass sie über rein körperliche Aktivität bzw. emotionale Äusserungen wie Schreien oder Weinen ihre Bedürfnisse artikulieren und damit natürlich auch erste soziale Prinzipien erlernen. 

Dies dient vor dem Hintergrund der Evolution, dem reinen Überleben. Innerhalb relativ sicherer Umgebungen wie in unserer Gegenwart werden dadurch die einzelnen Parameter des Zusammenlebens permanent getestet und angepasst. Es geht um Fragen wie: Was passiert, wenn ich jetzt schreie? Wie lange dauert es, bis ich bekomme, was ich will, wenn ich still bin? Wie erreiche ich das Ziel, wenn ich weine? Diese Liste könnte man natürlich deutlich ausbauen.

Mit den ersten sprachlichen Möglichkeiten eines Kindes über Ein-Wort-, dann Zwei-/Drei-Sätze und in der Folge ein komplexeres Verständnis von Sprache in der Rezeption (worüber seitens der Eltern ja nur spekuliert werden kann – hat mein Kind nun verstanden, oder nicht) sowie schliesslich der Fähigkeit zur Artikulation generell, entsteht zunehmend jene Phase, die für die Eltern als eine Art Erlösung (jetzt kann ich mit meinem Kind endlich sprechen), von dem Kind aber [auch] als ein extremer Verlust und eine Form der Reduktion seiner kommunikativen Möglichkeiten wahrgenommen wird.

Der Satz von Eltern: Du musst nicht schreien, du kannst mir doch auch sagen, was du willst, ist, eingebunden in einen sozialen Determinismus, zum einen eine [so empfundene] kulturelle Leistung (da nun die Dechiffrierbarkeit von Sprache nutzbar ist), zum andern aber ist sich auch ein wichtiges Kontrollinstrument, das dem Individuum (dem eigenen Kind) das Prinzip der Erziehung eindeutig in einen Rahmen bannt. Der Rahmen ist das Prinzip der Kommunikation und damit vor allem die Sprache bzw. die sprachliche Interaktion.

Für das Kind ist dies, ohne diesen Aspekt dramatisieren zu wollen, wohl auch ein gewisses Trauma, da es den Verlust eines Teils der Emotionen, welche ja seit Geburt gut als sozialer Trigger funktionierten, bedeutet. 

Mit den unterschiedlichen Perspektiven soll vor allem verdeutlicht werden, dass der Begriff Ethik nur über ein komplexes Umfeld begreifbar wird und damit auch eingeordnet werden kann. Ethik ist vor allem eine kulturelle Instanz, eine Art Hochamt jeder soziokulturellen Gemeinschaft und wird, das war das zentrale Anliegen dieser Beschreibung, durch die permanente Auseinandersetzung mit dieser, also der ständigen Verhandlung darüber, was das Gute oder das höchste Gut, was das richtige Handeln [in bestimmten Situationen] ist, vor allem aber, wie sich der freie Wille [des einzelnen Individuums] entfalten kann, permanent neu diskutiert und definiert.

Letztlich ist es, wenn wir von Ethik sprechen, immer die Frage nach dem Potenzial der kleinsten sozialen Einheit (das einzelne Individuum) und damit der Mikrokosmos [2] dieser isolierten Wahrnehmung wie auch der globalen Gemeinschaft von Menschen, welche sowohl lokal als auch im Verbund der Grenzen dieses Planeten in einem permanenten ethischen Austausch miteinander stehen. 

Die gegenwärtigen kommunikativen Mittel zu diesem Austausch konfektionieren eine Durchdringung und eine Resolution [Auflösung], also eine Dichte an Input, dass eine Verwertung dessen schon zu Beginn scheitern muss.

Anders als in den vergangenen ca. 5.000 Jahren, seit eine mehr oder weniger moderne Kultur die Lebensgrundlagen in verdaubaren Portionen der Öffentlichkeit zur Begutachtung übergeben konnte, leben wir heute in einer hyperkomplexen Permarealität, also einer Realität, die die einzelne Existenz durch den Einsatz der [digitalen] Mittel immer am Laufen hält.

Das Granulat der ethischen Gemeinsamkeit entzieht sich langsam der Möglichkeit zur Betrachtung und führt zur Selbstisolation in eigene, vornehmlich ikonische Mikrohemisphären.

E. M. Foster [2], 1879 – 1970, hat in seinem Science-Fiction-Roman Die Maschine steht still, geschrieben im Jahr 1909, den Kern dieser Aussage im Prinzip vorweggenommen. Wie hat er das gemacht?


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2020

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