Können wir die Zukunft vorhersagen? Nicht mit Sicherheit. Aber wir können uns mit Fragen darauf vorbereiten.
Der Begriff Proportage ist ein Kunstbegriff und abgeleitet von dem Begriff der Reportage. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und meint reporare, was so viel wir berichten oder melden bedeutet. Das Wesen einer Reportage besteht darin, dass die Person, die über einen Sachverhalt berichtet, eine möglichst intensive und eindrückliche Nähe zu dem Geschehen herstellt, über das berichtet werden soll. Dieser Prozess der persönlichen Konfrontation bedeutet allerdings auch, dass es zum Wesen einer Reportage gehört, dass der Bericht nicht ausschliesslich auf verifizierbaren Fakten beruht, sondern auch auf eigenen Beobachtungen, eigenen Eindrücken und damit individuellen Reflexionen.
Ich vergleiche diesen Ansatz auch gerne mit dem Unterschied zwischen der Recherche zu einem Thema und einer Exploration [2].
Einer der bedeutendsten Vertreter eines Vorgehens, welches die persönliche Konfrontation in den Mittelpunkt der Aktivität rückte, war sicher Alexander von Humboldt, 1769 – 1859, ein deutscher Forschungsreisender, der die Welt als Labor und das Experiment als das Werkzeug betrachtete.
Ottmar Ette spricht in seinem Buch Alexander von Humboldt und die Globalisierung: Das Mobile des Wissens treffsicher über einen neuen Wissens- und Reflexionsstand des Wissens von der Welt.
Eine Reflexion meint das vergleichende bzw. das abwägende Nachdenken oder auch Nachprüfen einer Beobachtung und sei es auch nur, wie in der Philosophie, eines Gedanken.
Dabei scheint der Vergleich bzw. das Abwägen relevant, da eine Reportage natürlich nicht eine beliebige und vollkommen subjektive Interpretation eines Geschehnisses sein will, sondern im Sinne der allgemeinen Wahrnehmung einer rezipierenden Gesellschaft als möglichst authentische, als korrekte Wiedergabe des Beobachteten angesehen werden soll.
Mit dieser Definition, wenn wir von einer überwiegend freien Gesellschaft ausgehen, kann man die Qualität einer Reportage mit der allgemeinen Akzeptanz durch die Öffentlichkeit und in der Konsequenz auch dem damit verbundenen Effekt auf das generelle und das individuelle Meinungsbild beschreiben.
Vermutlich würde der grösste Teil der allgemeinen Öffentlichkeit darin übereinstimmen, dass unsere Gegenwart, sei diese als Ganzes oder auf uns als einzelne Person determiniert, ein Konstrukt der Vergangenheit darstellt.
Das bedeutet, dass jeder Erfahrungspunkt (touch point) in dieser Vergangenheit einen mehr oder weniger starken Einfluss auf die gegenwärtige Realität hatte und permanent, im Verlauf der fortschreitenden Zeit, haben muss.
Mit dieser Wirkmächtigkeit und dessen Einfluss spielen sicher unterschiedliche Faktoren eine Rolle, welche wiederum situativ variieren.
Zum einen geht es um die Zeit generell. Vermutlich kann man allgemeingültig feststellen, dass Zeit im Rückblick in immer grösseren Zeiträumen erinnert wird (logarithmisch). Wir erinnern uns in der Regel recht gut, was vor einer Stunde, vor einem Tag, was letzte Woche und vielleicht noch was im letzten Monat bedeutend war. Bei längeren Zeiträumen wird das schon schwieriger. Ausser, wenn diese durch ein besonderes Ereignis in der Zeit gekennzeichnet waren.
Solche Ereignisse können positiv sein, wie ein besonders schöner Abend bei Freunden oder auch negativ, wie zum Beispiel ein Unfall, der zu einer grösseren Verletzung führte.
Immer geht es um ein Merkmal und damit um etwas, was man präzise und damit charakteristisch mit einem bestimmten Ereignis in Verbindung bringen kann.
Ein Merkmal, man kann es auch als Charakteristikum bezeichnen, ist immer etwas, was prägenden Einfluss hat. Dabei kann man unterscheiden zwischen einem Merkmal innerhalb der Sprache bzw. der Kommunikation und der Deutung eines Begriffes. Wir können aber auch ein Merkmal in der Form bzw. bei einem Objekt feststellen. Beispielsweise würde man sagen, dass ein bestimmtes Werkzeug, sagen wir ein Hammer, einen besonders gut geformten Griff hat, der das Einschlagen eines Nagels in der Handhabung sicherer macht. Das Merkmal dieses Hammers wäre also der Griff und damit hätte dieses Werkzeug einen differenzierenden Vorteil zu einem anderen Werkzeug, ohne diesen speziellen Griff.
Bei der Sprache und den Begriffen, die Sprache verwenden muss, um Kommunikation zu gestalten, ist dies schon etwas schwieriger. Man könnte allgemein sagen, dass jener Begriff als positives Merkmal erscheint, wenn wir die Metapher des Griffes eines Hammers vor Augen haben, der zum besseren Verständnis einer Sache führt.
Nehmen wir als Beispiel den Begriff warm. Dieser Begriff wäre idealtypisch durch eine exakte Angabe der Temperatur beschreibbar. Allerdings sind die Abhängigkeiten recht komplex.
Je nach dem konkreten situativen Umfeld kann eine Temperatur von, sagen wir, minus fünf Grad, als warm empfunden werden. Zum Beispiel dann, wenn man sich im Januar auf einer Wanderung im Gebirge in 1800 Meter Höhe befindet. Man kann den Begriff warm auch dann individuell gut nachvollziehbar anwenden, wenn man an einem Nachmittag in Kairo durch die Strassen flaniert und einen Tag ohne 35 Grad im Schatten erwischt hat, sondern einen mit nur 29 Grad in der Sonne.
Zugeben, das ist relativ trivial. Man kann natürlich sehr viel mehr Faktoren, idealer gesagt Einflussfaktoren nennen, welche die Lesbarkeit und das Verständnis, man könnte auch sagen, die Einordnung eines Wortes besser erlaubt als ein anderes. Vielleicht wäre dies die Frage nach der Luftfeuchtigkeit, der mehr oder weniger passenden Kleidung, der eigene Gesundheitszustand, die Frage nach dem, was man vorher gegessen hat, oder eben gerade nicht, vielleicht auch die psychische Verfassung, in der man sich gerade befindet.
Diese Liste liesse sich deutlich erweitern. Klar werden soll nur, dass ein Merkmal in der Sprache in Bezug auf einen Begriff sehr viel komplexer und schwerer einzuordnen ist, als wenn man ein faktisches Merkmal bei einem Objekt (wir erinnern uns an den Hammer) vergleichen würde.
Es wird jedoch noch etwas komplexer. Dabei spielen die sozialen und damit vor allem die psychosozialen Begleiterscheinungen in einer komplexen [2] Umgebung eine grosse Rolle. Wenn wir eine Person nicht kennen, sie zum ersten Mal sehen, dann wird es uns deutlich schwerer fallen, auch bei gleichwertiger Beherrschung einer gemeinsamen Sprache, die besonderen Merkmale zu verstehen, wie diese Person über etwas spricht.
Wenn wir allerdings eine Person schon sehr lange kennen und/oder uns mit dieser Person durch ähnliche Charakteristika unserer Persönlichkeit besonders vertraut fühlen, dann fällt es uns deutlich leichter, ein sprachliches Merkmal leichter zu dechiffrieren, also exakter das zu verstehen, was die Person zum Ausdruck bringen will.
Wenn wir also noch einmal die Frage nach dem Wort warm betrachten und diesen Begriff nicht nur auf ein situatives Umfeld wie oben beschrieben anwenden, sondern eben in Verbindung mit einer Person verstehen, die wir lange kennen und der wir uns sehr verbunden fühlen, dann wäre zum Beispiel die Frage, wie die Temperatur des Wassers in einem Schwimmbecken ist, in der diese Person gerade schwimmt und diese Person antwortet: Oh, angenehm, sehr viel exakter, als würde sie sagen: 24 Grad.
Warum ist das so? Wir kennen diese Person, haben möglicherweise schon viel mit ihr erlebt, fühlen uns ihr vertraut und ähnlich empfindend und können aus dieser subjektiven Verbindung sehr viel präziser verstehen, was der Begriff warm bedeutet, als wenn wir rein faktisch bzw. rein rational versuchen würden, wie warm durch die Angabe einer Gradzahl in der Situation zu interpretieren wäre.
Nun kann man auch hier sagen, dass das doch allzu menschlich und damit normal ist. Nun, das ist exakt richtig und gerade die Feststellung des allzu menschlichen ist so relevant für die folgenden Betrachtungen.
Wir waren bei dem Thema Zeit und der Unterschiedlichkeit, wie wir Zeit rückblickend wahrnehmen. Wenn also ein vergangenes Ereignis nicht durch eine besondere Situation eine herausgehobene Wirkung auf uns hatte, dann ist meine These, dass wir Zeit in unserer absehbaren (erinnerbaren) Vergangenheit logarithmisch wahrnehmen. Das heisst, je länger wir in der Zeit uns zurückerinnern, desto länger werden die Phasen der Zeiträume, wie wir unsere Vergangenheit in unserer Erinnerung einteilen. Wir sprechen dann, je älter wir werden, nicht mehr von Wochen oder Monaten, sondern von Jahren oder von Dekaden.
Normalerweise bilden wir aber auch konventionelle Begriffe, die aus einem Zeitraum herausgelöst werden, und sprechen dann zum Beispiel von unserer Jugend. Damit bilden wir eine soziale Kategorie, die mehr oder weniger ohne eine bestimmte Festlegung in der Zeit auskommt. Man würde vermutlich übereinstimmen und sagen, dass die Jugend immer irgendwie vergleichbar ist.
Allerdings über einen Zusatz, nehmen wir als Beispiel: Die Jugend im Jahr 1942, oder die Jugend in Syrien, oder die Jugend in einer Pandemie, verändert sofort den Begriff um den spekulativen Wert, wie wir das zeitliche, das räumliche oder das situative Umfeld mit der Aussage verbinden. Zumindest in unserer Vorstellung.
Das passiert natürlich immer und nicht nur bei potenziell negativen Konnotationen. Wenn ich sage, die Jugend in Kalifornien, die Jugend im Jahr 2019 oder die Jugend, als ich zum ersten Mal verliebt war, dann werden natürlich auch semantische Einordnungen vorgenommen.
Warum Semantik? Nun, wir geben grundsätzlich allem eine Bedeutung. Man könnte auch zugespitzt sagen, wir können dem, was wir wahrnehmen, nicht keine Bedeutung geben. Das versteht jede und jeder, der die Aufgabe erhält, auf einem weissen Stück Papier etwas zu zeichnen, was man nicht auf die eine oder andere Weise interpretieren kann, und sei es auch nur die Konnotation Schnee, wenn es bei dem weissen Stück Papier geblieben ist.
Dabei ist klar, dass der weitaus grösste Teil dessen, was wir semantisch verwerten, im Alltag von unserem Unterbewusstsein übernommen wird. Aber wir sind in jedem Augenblick unseres biologischen Lebens, also unserer Existenz, eingebunden in ein hyperkomplexes System von Einflussfaktoren, die unser Sein permanent bestimmen und wir uns damit ständig verändern. Ohne dass wir das konkret immer beeinflussen könnten.
Wie beschrieben spielt die zeitliche Verortung dabei eine grosse Rolle. Ab einem gewissen Lebensalter im Jahr 2021, wird die Aussage 9.11 relativ zügig und klar mit der Zerstörung der Twin-Towers in New York im Jahr 2001, am 9. November erinnert.
Die meisten Menschen, die zu der Zeit vielleicht 15 Jahre oder älter waren, werden noch relativ gut erinnern, wo sie an dem Tag waren, mit wem zusammen sie sich in einem Raum aufhielten, oder auch, was in den Tagen danach besonders einprägsam war.
Man könnte dieses Ereignis als ein kollektives Trauma bezeichnen, das sich als Supersymbol [2] als kollektiv lesbares Merkmal in das globale Bewusstsein eingeprägt, regelrecht eingebrannt hat und so heute verstanden wird.
Nun bedeutet 9.11 für jüngere Menschen im Jahr 2021 deutlich weniger, einfach aus dem Grund, weil sie keine persönliche Erfahrung damit verbinden und die Erfahrungen, welche sie aus ihrem sozialen Umfeld hätten lernen können, vielleicht nicht die Bedeutung hatten. Sie verbinden mit der Zahl 9.11 möglicherweise nur die Bezeichnung für einen Sportwagen oder sie denken an eine Staffelserie bei Amazon Prime mit dem Titel 9–1–1 Notruf L.A.
Durchaus ähnlich verhält sich dies aber auch mit Ereignissen, die wesentlich länger in der Geschichte zurückliegen. Das Jahr 1942 wird von den meisten Menschen, die in dem Jahr noch lange nicht lebten, lediglich in Form von geschichtlichem Wissen verwertbar, das heisst, nur mit diesem Wissen verstanden.
Im Jahr 1942 hat die 6. Armee der deutschen Wehrmacht versucht, die Stadt Stalingrad (heute Wolgograd) einzunehmen.
Diese Schlacht war eine beispiellose Materialschlacht gegen die 62. Armee der Roten Armee und wird als ein Wendepunkt während des Zweiten Weltkrieges bezeichnet; auf dem Weg zur deutschen Kapitulation, die in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai 1945 im Obersten Hauptquartier der Alliierte Expeditionsstreitkräfte in Reims unterzeichnet wurde.
Diese Detailinformationen haben für die meisten Menschen eine relativ geringe Bedeutung, da sie vor allem informierender, technischer Natur sind. Wenn man allerdings in einem Alter ist, wo der eigene Vater in dieser Zeit Teil der Invasion von Stalingrad war bzw. ein Betroffener der damaligen Folgen dieser Niederlage, dann hat das Jahr 1942 eine andere, eine das eigene Leben prägende Bedeutung. Die eigene Kindheit, wie auch die eigene Jugend war geprägt von dem Verhältnis zu diesem Vater und den damit verbundenen Erfahrungen.
Es wird sicher klar, worauf ich hinaus will und ich kann das an dieser Stelle in einem Postulat verkürzt wie folgt beschreiben:
Erfahrungen sind immer Nahtstellen komplexer Beziehungsgeflechte im Verlauf der persönlichen Vergangenheit.
Diese Erfahrungspunkte prägen, je nach ihrer Bedeutung, die jeweils darauf folgende persönliche Entwicklung.
Die Vergangenheit wird im Rückblick logarithmisch wahrgenommen.
Frühe Phasen werden in grösseren Zeiträumen zusammengefasst, oder sie werden in einer Kategorie gebündelt.
Die Vergangenheit, wäre sie ein Koordinatensystem, steht für die x-Achse. Auf der y-Achse kann man zum Beispiel die jeweilige Beziehungsebene, man könne auch sagen, die Arten der Beziehung differenzieren. Es ist sicher unbestritten, dass sich Beziehungen generell voneinander unterscheiden.
Sie sind sozial und situativ, vor allem aber emotional verortet, besser ausgedrückt: Beziehungen haben für uns eine jeweils unterscheidbare Bedeutung in der jeweiligen Gegenwart und soweit wir das überblicken können, wir also in der Lage sind, eine Vision unserer Zukunft zu bilden, prägen sie unser weiteres Leben.
Die Entwicklung dieser Beziehungen führt dazu, was allzu menschlich ist, dass sich die Beziehungen verändern. Eine flüchtige Bekanntschaft wird zu einer intensiven Beziehung, vielleicht eine Liebesbeziehung mit bedeutenden Folgen für unser Leben.
Oder genau das Gegenteil: Eine Beziehung, die intensiv begonnen hat, flacht im Verlauf der Zeit spürbar ab, sie verebbt und endet im Verlauf des weiteren Lebens. Beziehung beginnen an unterschiedlichen Zeitpunkten, auf unterschiedlichen Ebenen dessen, wo und wie diese Beziehung in Relation zu unserem Leben stand.
War sie eher ein Kontakt, der in der Schule, oder einer, der im beruflichen Alltag begonnen hat, dann waren dies deutlich andere Startbedingungen, als wenn man einen sozialen Kontakt in einer vorwiegend privaten, besonders intimen Situation erlebte und bereit war, sich darauf einzulassen.
Wenn wir von Nahtstellen sprechen, dann sind es oft diese Kreuzungspunkte, wo das soziale Leben Menschen zusammenbringen kann und daraus eine Wendung im Leben entsteht.
Oft zufällig, in manchen Fällen auch durchaus geplant und mit einem lebensstrategischen Kalkül. Immer aber sind diese Punkte mit einer gewissen Relevanz, also Bedeutung verbunden.
Durch die Bedeutung dieser Kreuzungspunkte entstehen wiederum Beziehungslinien zu Menschen, die für uns, für den, man könnte relativ technisch sagen, Erfolg unseres Lebens wichtiger sind als andere. Einfach darum, da wir mit diesen Menschen wiederum andere Menschen kennengelernt haben, die unser Lebensglück, archaischer ausgedrückt: unsere Überlebensfähigkeit positiv gestaltet haben. Andere Menschen werden dadurch auch zu einem Erfolgsfaktor unseres Lebens. Sie gestalten durch ihre Beziehung mit uns, vor allem durch unsere, soweit wir dies frei entscheiden können, Akzeptanz dieser Personen in unserem Leben, die Entwicklung des eigenen Lebens in bedeutsamer Weise.
Und so wie einzelne Personen in ihrer Bedeutung variieren, so unterscheidet sich in der Konsequenz auch die Bedeutung dieser Nahtstellen im Rückblick unseres Lebens.
Manche Kontaktpunkte [2] [3] waren extrem wichtig, andere, von denen wir dachten, diese hätten einen prägenden Einfluss auf uns, haben sich anders entwickelt. Wiederum sind manche Beziehungen im Verlauf der Lebenszeit, um in einem Bild zu sprechen, versandet, sie haben an Kraft, an Bedeutung verloren und sind fast vergessen.
Wenn man im Grundsatz darüber einstimmt, dass im Grunde das bewusste Leben (und wir können ja nur unser eigenes wirklich beurteilen) so oder so ähnlich sich zu einer permanent wandelnden Gegenwart formiert, dann wäre es zumindest ein lohnendes Modell, dieses Prinzip in die Zukunft, und sei sie auch noch so spekulativ, zu portieren:
Im Grund macht man damit nichts anderes als eine Art Interpretation bzw. Spekulation einer noch nicht eingetretenen Zukunft.
Es ist klar, dass dadurch keine Sicherheit dafür geschaffen wird, die Dinge würden sich tatsächlich so entwickeln.
Aber ist nicht auch der Blick in die Vergangenheit immer eine Interpretation und damit eine individuelle Annäherung an die tatsächlichen Gegebenheiten? Ist nicht die Perspektive in die Vergangenheit immer auch eine, mindestens in Teilen, Justierung, damit sie ideal zu unserer Gegenwart passt?
Das Leben des Einzelnen, wie auch das Leben einer komplexen Gesellschaft, operiert immer mit Unbekannten und der Spekulation über das richtige Vorgehen. Sei es als Analyse (im Sinne des griechischen Begriffs der Auflösung) des Vergangenen und in Ableitung dazu, um hier eine weitere Wortschöpfung zu versuchen, der Proalyse über das Kommende. Man schaut nach vorne (pro = lateinische Vorsilbe für vorwärts, vor oder hervor) und löst das, was man in der Zukunft sieht und versteht, soweit auf, dass es Sinn macht für ein Verständnis und damit eine Einsicht zu dem Notwendigen, was man in der Gegenwart tun könnte.
Wenn wir ohne Probleme unsere Vergangenheit analysieren und glauben, daraus Wertvolles für unsere Gegenwart zu erkennen, warum haben wir dann kein Vertrauen, unsere Zukunft proalysieren zu können, mit dem gleichen Ziel: Zu verstehen, was wie besser heute lassen sollten, damit unsere Proalyse auch eintritt.
Es ist mir vollkommen klar, um den Kritikern gleich den berühmten Wind aus den Segeln zu nehmen, damit wird nie eine belastbare Sicherheit für gegenwärtige Aktivitäten gewonnen. Das wäre zu einfach im Spiegel der Komplexität des Lebens [2]. Aber ich bin davon überzeugt, dass man damit belastbare Argumente erzeugen kann, die mindestens dazu führen, wertvolle Fragen zu stellen, welche dann für Handlungen in der Gegenwart Sinn machen.
Wie in der Überschrift zu diesem Text in einem Kunstbegriff so benannt, nenne ich diesen Prozess eine Proportage. Wäre alles, was hier beschrieben wurde, so einfach wie ein Garten mit einem herum tollenden Hund, dann wäre dies vergleichbar mit der Freude am Werfen eines Stockes, verbunden mit der Freude des Hundes (und der Besitzer:in), wenn dieser Hund auf direktem Weg den Stock holt und zum Startpunkt (von wo er geworfen wurde – in unserem Sinn die Gegenwart) zurückbringt.
Man kann bei diesem Beispiel auch an Gregory Bateson, 1904 – 1980, denken und seinem Beispiel eines Hundes bzw. der nötigen Energie um ihn zu bewegen. Und tatsächlich spielt der von ihm geprägte Satz: The difference that makes a difference, auf elegante Weise mit dem Ansatz einer Proportage und damit der Methode, die ich hier erläutere.
Wenn wir auch hier im Bild bleiben wollen, dann wird bei dem Prozess der Proportage im Garten des Lebens ebenfalls ein Stock in die Zukunft geworfen und auch dieser wird wieder zurückgebracht. Ganz einfach. Aber wie macht man das?
Mit einem anderen Begriff nenne ich eine Proportage auch Motiv-Prospektion. Das macht inhaltlich möglicherweise mehr Sinn und ist ohne weitreichende Ausführungen deskriptiver und damit leichter verständlich.
Die Kombination der Begriffe Motiv und Prospektion trifft gut die Idee einer Proportage. Es geht auf der einen Seite um die Fähigkeiten und die Methoden einer Art Vorausschau. Auf der andern Seite muss man sowohl das Motiv der eigenen Intention, vor allem aber die Intentionen der gesellschaftlichen Gruppen und damit der Vertreter:innen kennen, um zu verstehen, warum und wie sich letztlich Akzeptanz für Veränderung in der Zukunft bei einem bestimmten Thema oder Angebot entwickelt.
Wie schon an verschiedenen Stellen anderer Texte und Essays geschrieben, ist der Begriff Motiv auch der wichtigste Teil bei der Bedeutung des Begriffs Motivation.
Wie soll ich in der Lage sein, jemanden zu motivieren, wenn ich nicht das Motiv der Person kenne?
Proportage basiert also auf einer Spekulation [2] [3] über die Zukunft und da jede Zukunft, über die wir als Menschen spekulieren können, auch von Menschen belebt sein muss, geht es auch hier um Menschen und deren Kommunikation bzw. deren soziales Verhalten sowie die Konsequenzen ihrer Entscheidungen.
Unbestritten ist sicher, dass sich alles permanent verändert. Um den potenziellen Erfolg der eigenen Ziele, verbunden mit konkreten Themen oder Angebote, seien es auch kommerziellen Produkte oder Services zu verstehen, muss man schlicht den Blick etwas weiten und genereller darüber spekulieren, was sich im Umfeld der eigenen Perspektive für Menschen, also immer Ausschnitte einer Gesellschaft, verändert.
Proportage basiert daher auf einer fiktiven Kommunikation zwischen fiktiven Protagonisten, die man für diesen Prozess der Betrachtung zwingend benötigt.
Bei den unterschiedlichen Kreativ- und Innovationsmethoden kennt man den methodischen Ansatz, die kommunikativen Reflexion über sogenannte Personas zu organisieren. Dazu führt man üblicherweise eine Reihe qualitativer Gespräche (Interviews mit einem persönlichen Bezug) und wertet diese nach einem bestimmten Verfahren aus. Das Ziel ist, daraus Protagonisten zu schaffen, die als fiktive Vertreter:innen für eine damit definierte Gruppe in der Gesellschaft stehen und deren Position vertreten.
Ginge es hier nicht um die Abstraktion des hier beschriebenen Themas Proportage, sondern zum Beispiel um ein Schauspielstudium oder generell um das Genre Film, dann könnte man sagen, dass in jedem Drehbuch die einzelnen Figuren so präzise herausgearbeitet sein müssen, damit die Regie (die Regisseurin bzw. der Regisseur) die Charaktere so gut kennt, um jede Szene des Films (den Plot) schon klar vor Augen zu haben und damit die Dramaturgie der Geschichte erzählen kann.
Bei einem Film wundern wir uns nicht über diese Kompetenz und Arbeitsweise. Warum können wir das nicht auch auf eine gewisse Form der Zukunftsdeutung anwenden?
Wie schon erwähnt, der Ansatz der Proportage basiert auf fiktiver Kommunikation. Ich nenne das Dialograum (Dialog) oder auch Dialogintervall (Intervall), was es eigentlich noch präziser beschreibt. Doch zuerst muss man die Frage klären, wie man dazu kommt, so eine Form der Kommunikation zu beginnen.
Wie schon ausführlich in diesem Text beschrieben, erklären wir den Zustand unserer Gegenwart oft als Betonung, als Entschuldigung, als Er- oder Verklärung bzw. auch als Überhöhung des Vergangenen; durch eine Art Springen zwischen den verschiedenen Zeiten unserer Vergangenheit.
Wir würden möglicherweise wie folgt über uns selbst gegenüber einer anderen Person erzählen: Ich bin zu dem geworden, wer ich heute bin, weil mir damals das passiert ist und mir die Möglichkeit gab, Folgendes zu tun. Dann habe ich diese Person kennengelernt, die mir jene Person vorgestellt hat und dadurch hat sich das Folgende in meinem Leben so verändert. Oder wir würden sagen: Damals habe ich davon geträumt, dass ich einmal das machen würde. Aber als es so weit war, wurde mir klar, dass ich dies aus jenem Grund, welcher lange zurückliegt, gar nicht wirklich will. Ausserdem bin ich darin auch gar nicht so gut. Deswegen habe ich dann folgende Entscheidung getroffen.
Ich denke, es wird klar: Wir er- und manchmal auch verklären unsere Vergangenheit mit dem Ziel, eine möglichst schlüssige und befriedigende (oft auch nur beruhigende) Erklärung für unsere Gegenwart zu schaffen.
Bei den einzelnen Zeitpunkten dieser vergangenen Zeit erklären wir die Richtung, die unser Leben damals genommen hat, mit jenen Einflussfaktoren, die damals wichtig (dominant) waren. Damit wird es dann schlüssig und leichter erklärbar, da wir ja nicht abgekapselt gelebt haben, sondern Teil eines grösseren Umfeldes (System) waren. Niemand würde uns vorwerfen, dass diese Einflussfaktoren unsere damaligen Entscheidungen beeinflusst haben, schliesslich gilt die Tatsache, dass niemand isoliert lebt, sondern immer Teil eines grösseren Ganzen ist, für jeden.
Soweit klar. Das Gleiche macht die Proportage. Nur eben mit dem Blick auf die Zukunft. Eigentlich ganz einfach.
Die Methode funktioniert wie folgt: Es werden fiktive Protagonisten definiert, sogenannte Personas, die möglichst prägnant für einen Ausschnitt der Gesellschaft und damit für eine soziale Gruppe stehen können. Sie vertreten in der Chronologie des weiteren Prozesses diesen Teil der (ebenfalls fiktiven) Gesellschaft. Es sollten mindestens zwei Personas, idealerweise jedoch drei oder mehr entwickelt werden, da die Grundidee der Proportage auf einem Diskurs zwischen diesen sozialen Figuren aufbaut.
Aus einer kommerziellen Perspektive werden damit Vertreter:innen einer Zielgruppe definiert, für welche man die potenzielle Akzeptanz für ein zukünftiges Produkt, einen neuen Service bzw. generell für ein Angebot untersuchen möchte.
Zielgruppen sind Stilgruppen.
Die aufmerksame Leser:in wird sicher die Frage haben, wie man zukünftige Figuren definieren soll, wenn nicht klar ist, welche Lebensrealität zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zur gesellschaftlichen Norm wurde.
Aus dem Grund ist es relevant, die Personas diskursiv, also eine fiktive Realität in der Zukunft reflektierend und damit [sequenziell] reagierend zu entwickeln. Das klingt abstrakt und kompliziert und tatsächlich ist diese Phase auch der anspruchsvollste Teil der Methode.
Grundsätzlich werden unterschiedliche Entwicklungen, welche sich in der aktuellen Gegenwart deutlich abzeichnen und über deren zukünftige Entwicklung man solide spekulieren kann, in dieser Zukunft als potenzielle fiktive Realität beschrieben (vergleichbar mit dem Drehbuch eines Films).
Dabei ist es relevant, dass ein möglichst umfassendes Bild der gesellschaftlichen Realität gezeichnet wird und dieses idealerweise lebensnah beschrieben wird.
Wir sprechen also nicht nur über technologische Veränderungen jeder Art, sondern auch über (spekulativ) ökonomische und ökologische oder auch über kulturelle, soziologische und politische Veränderungen. Im sozialen Mikrokosmos geht es weitergehend auch um moralische und ethische Fragen und Kriterien, die dann möglicherweise Teil der (zukünftigen) öffentlichen Diskussion sind.
Die Methode der Proportage also davon aus (als These), dass es eine systemische Logik dafür geben muss, wie sich gesellschaftliche Realitäten und damit die Akzeptanz ihrer Vertreter:innen gegenüber Veränderungen entwickeln bzw. teilweise auch zwingend entwickeln müssen, da sie einer systemischen Logik folgen.
Wir sprechen also von Systemik und meinen damit das Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeiten aller Entwicklungen menschlichen Schaffens. Seien diese konkret und materiell oder rein ideell und damit weniger messbar.
Jedes System basiert auf dem Kontext der Einzelteile und ihrer kausalen Wirkung, damit sie auch ihre Funktion und damit ihr Ziel erfüllen. Man könnte auch sagen, dass Kontext ohne eine kausale Anwendung (die Realisierung eines Zieles) keinen Sinn macht. Mit einem einfachen Beispiel: Ich muss den Zusammenhang von Wasser, Mehl und Hefe verstehen (Kontext) und damit das damit verbundene Potenzial, um daraus ein Brot zu backen (Kausalität).
Kausalität ist ohne Kontext nicht möglich.
Kausalität ist angewandter Kontext.
Wie schon in anderen Texten geschrieben, kann man das auch in den folgenden beiden Sätzen so erklären:
Probleme treten immer in der Nachbarschaft anderer Probleme auf.
Wenn dies gilt, dann kann man auch feststellen:
Lösungen treten immer in der Nachbarschaft anderer Lösungen auf.
Das bedeutet, dass man nur die Wechselwirkungen (Reziprozität) der Aktivitäten und damit die Nutzung von Teilsystemen beobachten muss, um zu verstehen, wie sich Gewohnheiten durch das Lernen neuer Tätigkeiten verändern. Neue Tätigkeiten, also die faktische Anwendung und damit die Bereitschaft, einen neuen Aspekt zum Teil der Lebensrealität (Lebenswelt) werden zu lassen oder diesen wenigstens einer Prüfung zu unterziehen.
Wenn wir Kinder beim Spielen beobachten, dann erzählt uns das viel über den Prozess der Aneignung des Neuen.
Jedes Spiel basiert auf der Kenntnis des Spiels selbst und damit auf den damit verbundenen Regeln. Diese Kompetenz, sei sie extrinsischer oder intrinsischer Teil der Handlungsebene, bedeutet, dass die Person das Prinzip des Spiels so weit verstanden hat, um spielen zu können.
Das bedeutet in der Realität vor allem, dass es sich dabei um einen iterativen Prozess handelt.
Man kann die Basisregeln eines Schachspiels verstanden haben, aber noch Jahre der Übung davon entfernt sein, ein guter Schachspieler bzw. eine gute Schachspielerin zu werden.
Jedes Spiel basiert auf der Kenntnis der Spielregeln.
Das bedeutet die Fähigkeit, diese anzuwenden zu können und damit zu spielen.
Anders als bei den deutschen Begriffen Spiel und spielen wird dies in der englischen Sprache sehr prägnant durch die Begriffe game und play zum Ausdruck gebracht.
Jede Handlung ist also immer ein Prozess der mehr oder weniger bewussten Veränderung, welche man auch als Lernen bezeichnen könnte. Auch wenn dieser Vorgang nicht zwingend mit einer finalen Bewertung des langfristigen Potenzials für die eigene Lebenswelt verbunden sein muss.
Idealerweise ist dieser Prozess mit einer mühelosen Leichtigkeit so gestaltet, dass die betroffene Person das Neue mit etwas Bekanntem, also schon gelernten und damit einem Standard verbinden kann.
Der Erfolg einer erfolgreichen Veränderung gewohnter Lebensstandards verläuft reziprok zum Aufwand, der für diese Veränderung notwendig ist.
Wenn Menschen, meistens noch als kleine Kinder, Fahrrad fahren lernen, müssen sie nicht verstehen, wie die physikalischen Kräfte der Gravitation und der Fliehkraft in einer idealen Verbindung zueinanderstehen müssen, damit sie sich sicher auf einem Fahrrad halten können, um damit durch einen Park fahren. Es liegt in der Natur der Sache, und diese Sache (das Fahrrad) ist optimal auf die Fähigkeiten des Körpers der Fahrrad fahrenden Person ausgelegt.
Die Kinder nutzen ein (in diesem Fall) technisches System, das Fahrrad. Dieses Produkt hat seit seiner Erfindung extrem viele iterative Verbesserungen erfahren und damit den Zugang zu einer erfolgreichen Nutzung so niedrig gestaltet, dass der Erfolg für seine Anwendung tendenziell sehr hoch ist.
Wenn wir das Fahrrad also zu einem System erklären, dann müssen wir erst einmal feststellen, dass jedes System (genau genommen, sprechen wir dabei von allem, was uns umgibt) ein aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes ist.
Das Kind nutzt sein System Körper, verbindet dieses mit dem System Fahrrad, fährt auf dem System eines Weges im Park und erkennt die Abgrenzung zu einem anderen System, wo es nicht fahren sollte, der Strasse neben dem Park, da dort Autos fahren und dem Kind noch die Kompetenz fehlt, mit diesem System sicher umgehen zu können. Und so weiter.
Der wichtigste Aspekt bei diesem alltäglichen Beispiel ist die Beschreibung des Übergangs von dem einen (schon bekannten) zu einem anderen (noch unbekannten) System. Also der Übergang von der sicheren Umgebung des Parks und damit einer kompetenten Nutzung zu der neuen, unsicheren Umgebung der angrenzenden Strasse. Denn dies ist der Bereich, an dem es noch keine ausreichende Kompetenz gibt, was schlicht bedeutet, hier gibt es noch keine Erfahrung.
Ein System definiert sich sowohl durch seine Abgrenzbarkeit zu einem anderen System in Kombination zu einem Sinn- und Ziel orientierten gemeinsamen Ganzen.
Wenn daher das Beispiel mit dem Kind auf dem Fahrrad und den damit verbundenen Lernerfahrungen im Park Sinn machen soll, dann macht die Nutzung der Strasse (und dem Zusammenwirken mit dem System Auto) erst dann Sinn, wenn das Kind die Kompetenz hat, auch in diesem System sicher agieren zu können. Erst dann ist die Strasse möglicherweise der schnellere Weg zur der Eisdiele im Bezirk, statt auf Nebenwegen dorthin zu gelangen.
Dieses alltägliche Beispiel ist wichtig für die grundsätzliche Idee der Proportage, da es immer um den einfachen Blick von unten (der sozialen Normalität) nach oben und damit der kollektiven und damit der sozialen Übertragungsebene geht.
Noch einmal als Wiederholung und weil es für das darauf aufbauende Verständnis eine herausragende Bedeutung hat:
Jedes System definiert sich immer als Teilsystem, da sonst die Grenze dieses Systems keinen Sinn machen würde.
Auch Sprache ist ein System. Sie macht Sinn durch ihren Unterschied, wie durch die Möglichkeit der Übertragung in eine andere Sprache mittels der Übersetzung in diese Sprache.
Ein Gebäude macht Sinn durch seine strukturelle Funktion im Vergleich zu anderen Gebäuden bzw. der Ergänzung zu dem Umfeld des Gebäudes.
Die Bauklötze des spielenden Kindes, das eben noch Fahrrad fahren im Park geübt hat, machen innerhalb des Raumes eines Gebäudes Sinn (es sind die Rahmenbedingungen), in dem das Kind spielt, sowie der zeitlichen Abgrenzung zu dem Abendessen, welches gerade in der Küche zubereitet wird.
Alle diese Beispiele sind relevant, da sie die Konzentration auf den Aspekt lenken sollen, der bei der methodischen Anwendung der Proportage wichtig ist: Es geht um die Bedeutung der Einflussfaktoren, die in der Gesamtheit aller Themen (Gesamtsystem), welche für die jeweilige Lebensrealität zusammen wirken, immer auch einen Einfluss auf mögliche einzelne Veränderung haben (Teilsystem).
Wenn wir uns also mit der Frage beschäftigen würden, ob Menschen in der Zukunft bereit wären, sich in ihrer alltäglichen Lebensrealität (als Beispiel) Roboter vorstellen zu können, dann ist es relevant, die spekulative Lebenswelt in einem radialen Zusammenspiel unterschiedlicher Veränderungen zu betrachten und diese in einer Art kommunikativen Rollenspiel zu testen.
Und an dieser Stelle kommen die Personas [2] auf das Spielfeld.
Wir stellen uns also vor, wie wir zu einem Zeitpunkt in zum Beispiel 10 Jahren nach unserer Gegenwart eine Lebensrealität beschreiben, die dann gesellschaftliche Normalität wäre.
Dabei spekulieren wir über unterschiedliche Veränderungen, die direkt oder indirekt mit dem Thema Robotik im Alltag in Verbindung stehen können. Wir spekulieren über potenzielle Entwicklungen der Mobilität, da wir hier eine gewisse Nähe zum Thema Robotik vermuten, denken aber auch an die Entwicklung neuer Logistiksysteme, möglicherweise besonders für Güter des alltäglichen Lebens, sagen wir Lebensmittel. Darüber hinaus beachten wir Themen wie Medizin, Bildung, Reisen, Lernen oder Sport und projizieren all diese auf das (radiale) Feld einer spekulativen Lebenswelt in zehn Jahren. Diese zukünftige Lebenswelt wollen wir erkunden und schon heute ein wenig verstehen (lernen).
Der Begriff und das Potenzial einer konzentrischen, radialen Betrachtungsfläche macht daher Sinn, da die Bedeutung für das eigene Thema (Nähe und Distanz) unterschiedlich sein kann, sich dies aber im Verlauf der diskursiven Konfrontation (in dem schon genannten Dialograum / Dialogintervall) verändert und dann neu sortiert.
Diese spekulativen Lebensrealitäten definieren und fixieren also einen konkreten Zeitpunkt, an dem natürlich auch Menschen der Gradmesser für die Akzeptanz jeder Veränderung sein werden, wie in unserer Gegenwart auch.
An diesem Zeitpunkt beginnt nun ein fiktives Gespräch zwischen, sagen wir, drei Personas, die idealerweise in einer Beziehung zueinanderstehen. Dies können Beziehungen jeder Kategorie sein: familiäre, berufliche, private in jeder Form und alle denkbaren Mischformen. Eben wie im richtigen Leben unserer konkreten Gegenwart.
Und wie in der Normalität unserer Gegenwart wird so ein Gespräch auch davon handeln, was war (in der Vergangenheit) und darüber spekulieren, was sein könnte (in der Zukunft).
Der einzige Unterschied zu einem Gespräch, welches wir heute führen würden, ist, dass alle drei Zeitpunkte, also die Erinnerung früher als der Zeitpunkt in neun Jahren (2030), wie auch die Vorstellung über eine Zeit nach diesem Zeitpunkt (z. B. 2038) aus unserer Perspektive (2021) immer Zukunft ist und damit nach unserer Zeit liegt.
Und wie bei einem mühelosen Gespräch in unserer Gegenwart, sagen wir mit Freunden bei einer Tasse Kaffee am Nachmittag, erzählen wir uns, wie wir uns in unserer (noch vor uns liegenden) Vergangenheit (also nach unserer Gegenwart) die zukünftige Entwicklung (nach der aktuellen Zeit 2030) vorgestellt haben.
Oder was etwas komplizierter ist: Wir spekulieren darüber, wie wir in der Zukunft über die beiden oder mehrere Zeiten sprechen werden, die entweder unsere dann normale Gegenwart (2030) ist oder ein Zeitpunkt davor war (2025)?
Die Kunst liegt in der gedanklichen Übung, diesen Ablauf des Springen zwischen verschiedenen zukünftigen Zeitpunkten genauso locker zu vollziehen, wie wir das beim Erzählen über unsere Vergangenheit mühelos tun. Jedes Kind im Alter von zum Beispiel sechs Jahren macht dies ohne Probleme, wenn es über seine ersten Erfahrungen im Kindergarten erzählt. Warum fällt uns dies so schwer, wenn wir über die Zukunft zu spekulieren [2] beginnen?
Ich denke, es ist klar, wir tun damit etwas sehr Menschliches, typisch Kommunikatives. Wir erzählen uns gegenseitig von unserem Leben und dem, wie wir dieses Leben als Plan und als Erinnerung so darstellen können, dass es für die andere Person nachvollziehbar ist und dadurch Sinn macht.
Oft ist der Grund für so ein Gespräch, damit wir eine andere Person von etwas überzeugen. Sei es zu unserem Vorteil oder zum (vermeintlichen) Vorteil für die andere Person (worüber wir ja auch in weiten Teilen nur spekulieren können).
Man könnte auch dafür ein weiteres Postulat formulieren:
Das Leben ist ein doppelter Spiegel zwischen den beiden Erzählebenen von es war einmal! und was wäre wenn?
Wobei uns besonders die Konsequenz der Spekulation über die Zukunft interessiert, denn die Frage: Was wäre wenn…(?) führt uns automatisch zur darauf folgenden Spekulation von: Wenn es so wäre, dann…(!)
What if?
If, then!
Ein kleiner theoretischer Diskurs in die Philosophie der Dialektik: Der Begriff der Dialektik kommt aus dem altgriechischen und bedeutet sinngemäß die (Kunst der) Unterredung, was gleichbedeutend ist mit der lateinischen Version von (der Kunst der) Gesprächsführung.
Was bedeutet Dialektik? Kurz erklärt wird dabei eine These aufgestellt (eine Behauptung, die belegbar sein muss), die durch eine Antithese mit dem Ziel einer Beweisführung gekontert wird.
Eine Hypothese wiederum ist eine schwächere Form der These und bedeutet eine Form der Unterstellung bzw. Vermutung, bis diese bestätigt oder widerlegt wird.
Im Zusammenspiel zu der Antithese hat sie aber die gleiche Funktion. Es geht um einen Diskurs ggfs. auch einen Disput mit dem Ziel, aus der Gegenüberstellung der Positionen, einer idealen Lösung und damit einem gemeinsamen Ziel, im philosophischen Sinn auch der Wahrheit, so nahe wie möglich zu kommen (über den Begriff der Wahrheit wollen wir an dieser Stelle nicht weiter sprechen, wobei es im Zusammenspiel der Frage nach Moral und Ethik durchaus bedeutend ist, wie eine Gesellschaft Veränderungen diskutiert und in der Folge für die eigene Zukunft akzeptiert).
Die Auflösung dieses (kommunikativen) Diskurses bzw. Disputs wird schliesslich, bzw. idealerweise in einer Synthese geführt. Eine Synthese versucht, eine Lösung zu einem Problem zu formulieren oder ein neues Verständnis zu diesem Problem zu formulieren.
Wenn wir den Begriff Problem besser als Herausforderung für die Akzeptanz auf dem Weg zu etwas Neuem umformulieren, dann ist speziell dieser zweite Aspekt, also das, was eine Synthese zum Ziel hat für uns am wertvollsten: ein neues Verständnis entwickeln, um zum Kern dessen vorzudringen, was die Methode der Proportage erreichen will.
Gehen wir zurück zu der Frage, ob und wie sich Menschen mit dem Thema Robotik in ihrem Alltag anfreunden können?
Nutzen wir dafür ein einfaches Beispiel und definieren drei Personas, die in einer verwandtschaftlichen Beziehung zueinanderstehen und sich zu dem Thema an drei verschiedenen Zeitpunkten unterhalten. Das Beispiel soll bewusst sehr einfach gehalten sein, da es nur das Prinzip verdeutlichen soll. In einer professionellen Anwendung kann die Methode Proportage wesentlich komplexer und umfassender strukturiert werden.
Unsere Frage lautet:
Was wäre, wenn es im Jahr 2030 total normal wäre, zu Hause oder in einem Pflegeheim unterstützt bzw. betreut zu werden?
Wir haben drei Personas, die sich zu diesem Thema im Jahr 2021 unterhalten:
Mona
19 Jahre. Enkelin von Barbara. Nichte von Max. Sie studiert Biologie und ist seit einem Jahr von zu Hause ausgezogen. Sie hat kein Auto und geht sehr gerne zu Fuss oder fährt mit ihrem Fahrrad. Ihre weiteste Reise war nach Neuseeland. Sie hat seit vier Monaten einen festen Freund. Manchmal trinkt sie ein wenig zu viel am Abend. Als eine Art Ausgleich macht sie dann Sport am nächsten Tag. Vor allem aber am Wochenende ist sie aktiv. Sie isst schon länger kein Fleisch, aber sehr gerne Fisch. Sie achtet besonders aufmerksam auf Recycling und kauft auch ihre Kleidung relativ bewusst ein. Aber sie mag keinen Dogmatismus. Sie interessiert sich relativ stark für Politik, vertraut Politikerinnen und Politiker aber immer weniger. Sie liesst gerne und viel, schaut aber auch gerne Serien auf Netflix.
Max
44 Jahre. Onkel von Mona und Sohn von Barbara. Er ist von Beruf Maschinenbauer und lebt mit seiner Frau Susanne in einem kleinen Einfamilienhaus. Beide haben keine Kinder. Sie haben ein normales Mittelklasseauto. Max aber liebt besonders sein Motorrad. Er hat auch ein Fahrrad, das er aber sehr wenig benutzt. Seit einem Jahr hat er eine Drohne und beschäftigt sich generell gerne mit Computern. Ausserdem experimentiert er gerne mit seinem Smartphone, warum er sich auch die Drohne gekauft hat. Er liesst gerne Fachliteratur. Romane liest er vor allem für Susanne. Max träumt von einem Wohnmobil. Manchmal ist er etwas launisch. Manchmal raucht er auch heimlich. Eigentlich wollte Max Architekt werden. Aber alles in allem ist Max überwiegend glücklich.
Barbara
76 Jahre. Mutter von Max und Oma von Mona. Sie war früher Lehrerin und ist seit vier Monaten Witwe. Barbara hat drei Kinder. Sie fuhr nie gerne alleine im Auto. Heute geht sie jeden Tag zu Fuss, damit sie fit bleibt. Sie reist am liebsten mit ihrer besten Freundin Marie. Inzwischen nutzt sie sehr gerne ihr Smartphone und hat auch seit drei Jahren ein Tablet. Barbara kocht gerne, aber eher einfach und klassische Küche. Sie liesst immer noch gerne Tageszeitung, aber auch sehr gerne Biografien. Sie fährt gerne mit dem Bus. Manchmal ist Barbara ein wenig melancholisch. Sie trinkt jeden Tag ein wenig Wein und vermisst dann ihren Mann. Oft schläft sie nicht so gut.
Wir erinnern uns. Die Frage war:
Was wäre, wenn es im Jahr 2030 total normal wäre, zu Hause oder in einem Pflegeheim unterstützt bzw. betreut zu werden?
Barbara: Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es gibt ja heute so viel verrücktes Zeug, da komm ich gar nicht mehr mit und will das auch gar nicht mehr.
Mona: Aber Oma, das ist doch quatsch. Vor drei Jahren hast du ein iPad von Max geschenkt bekommen und heute sieht man dich ständig damit rumlaufen.
Max: Eben. Und seltsamerweise bestellst du jetzt schon ein Taxi mit deinem iPad und verfolgst auf dem Bildschirm, wie weit das Auto noch von dir entfernt ist, damit du dich in Ruhe anziehen kannst.
So ungefähr könnte man das Gespräch im Jahr 2021 fortsetzen.
Springen wir in das Jahr 2030 und stellen die Frage:
Was wäre, wenn es im Jahr 2038 total normal wäre, dass ältere oder bedürftige Menschen mit einem Exoskelett körperlich unterstützt werden, damit sie mobil bleiben?
Barbara: Nee, nee, ich kann alles schon noch ganz gut alleine, auch wenn es mir jeden Tag schwerer fällt. Mir ist schon klar, dass ich immer weniger beweglich werde, aber so ein Ding lasse ich mir nicht umschnallen.
Max: Aber Mutter, du hast dich doch auch an die Roboter im Heim flott gewöhnt. Manchmal glaube ich, du vertraust den Dingern mehr als mir. Mit so einer Hilfe [Exoskelett] könntest du sogar wieder alleine Bus fahren und deine Freundin Marie besuchen.
Mona: [Mona hat als Dozentin eine Karriere an der Universität gemacht] Wir haben in der Uni inzwischen an vielen Stellen Roboter. Das ist immer noch seltsam, aber auch hilfreich. Und so ein Exoskelett würde ich mir auch nicht anlegen, obwohl Max da schon ein gutes Argument hat.
So ungefähr könnte man das Gespräch im Jahr 2030 fortsetzen.
Springen wir in das Jahr 2038 und stellen die Frage:
Hätten wir uns im Jahr 2025 vorstellen können, dass sich alles so entwickelt? Damals dachten wir noch, dass…
[Barbara ist inzwischen gestorben]
Max: Jetzt ist Oma schon zwei Jahre tot. Wenn ich überlege, wie sie sich gegen vieles gesträubt, es dann aber doch versucht hat. Und vor drei Jahren war sie doch glatt im Urlaub mit dem Ding [Exoskelett]. Aber vor 15 Jahren dachte ich, dies würde alles nicht so schnell gehen.
Mona: Ich finde das trotzdem gruselig. Irgendwie hatte Oma auch mit vielem recht. Man darf einfach nicht alles machen, was geht. Das habe ich 2025 auch schon gesagt. Ich bin sicher, dass wir echt andere Probleme haben auf diesem Planeten.
So ungefähr könnte man das Gespräch im Jahr 2038 fortsetzen.
Für alle die gerne die Kurzversion zum Thema lesen wollen: PROPORTAGE_quick version
Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.
© Carl Frech, 2020
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