Wir verstehen unter Lernen vor allem Denken und vergessen, wie wir Denken gelernt haben. Wir vergessen unseren Körper. Wir denken nicht an unsere Hände.
Lernen bedeutet, sich mit etwas zu befassen. Im Sinne des Wortes fassen wir etwas an, betrachten es aus möglichst vielen Seiten und beginnen eine Entwicklung.
Unser Gehirn scheint dabei eine besondere Rolle zu spielen. Doch das Spiel, um dieses Gehirn zum Einsatz bringen zu können, beginnt lange vor unserer Geburt.
Das Potenzial unseres Gehirns ist eine Geschichte unseres Körpers in der Geschichte der Menschwerdung.
Es ist vor allem die Geschichte eines herausragenden Wunderwerks, das der menschliche Körper zur Verfügung hat: die Hände.
Mit den Händen entstand die Geste als Vorbote der Sprache. Das Zeigen und damit die Deutung auf eine Auswahl. Es entstand die Bedeutung dessen, was man versuchte zu beschreiben.
Es entstand die Schrift als die erste Möglichkeit der Beschreibung von allem, was Menschen sich vorstellen konnten. Damit war die Basis für eine Auflösung der Physik und die Parallelität der Welt in digitalen Räumen unserer Gegenwart geschaffen.
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Shortcuts zu einzelnen Unterthemen bzw. zentralen Stichworten in diesem Text:
Kortikale Neuronen ||| Hand ||| Schrift ||| Sprechen ||| Kinder ||| Geste ||| Digitus
Das menschliche Gehirn [2] [3] [4] ist nicht das grösste auf diesem Planeten. Elefanten oder Orcas müssten, wenn man die Grösse des Gehirns als Maßstab nimmt, deutlich intelligenter [2] [3] sein als ein [normaler] Mensch.
Doch was ist schon normal?
Wenn man die Körpergrösse proportional als Vergleichsgrösse gegenüberstellt, dann müssten einige Affenarten dem Menschen deutlich überlegen sein. Das sind sie jedoch nicht.
Menschen benötigen eine relativ lange Zeit, bis sie alleine lebensfähig sind. Mit der Geburt eines Menschen beginnt ein, im Vergleich mit anderen Säugetieren, langer Prozess vollkommener Abhängigkeit.
Die Entwicklung des menschlichen Gehirns wird oft als Schlüssel für die Erfolgsgeschichte der Spezies des Homo sapiens genannt, jener Spezies, die sich in den vergangenen ca. 300 000 Jahren auf diesem Planeten eine führende Position erkämpft hat. Im Vergleich zum Alter des Universums oder der relativ jungen Erde – auf der sich verrückterweise Leben entwickeln konnte – entspricht dies weniger als der Lebensdauer einer Fruchtfliege relativ zu unserer Gattung.
Doch das sind alles nur Zahlen und abstrakte Vergleiche.
Warum sich das menschliche Gehirn so entwickelt hat, wie wir es heute kennen und nutzen, dafür gibt es vermutlich viele Gründe. Ob das Verzehren von Fleisch – Menschen gelten im Tierreich als Allesfresser [2] – und der spätere Einsatz von Feuer für die Zubereitung dieser Proteinquelle so wichtig war, wollen wir hier nicht näher beleuchten. Ein streitbares Thema.
Die anthropologisch frühe Spezies des Menschen entwickelte sich mit diesen und anderen veränderten Lebensweisen notgedrungen zu Herdenwesen. Die Kooperation [2] mit anderen, also die Bildung kleiner Gruppen waren elementar für das individuelle Überleben und gleichzeitig ein Risiko, denn der Aufbau kognitiver Leistung des Gehirns hatte einen Preis:
Die Muskelmasse reduzierte sich relativ zur Entwicklung dieses Organs. Die Hirnmasse als Teil eines komplexen Körpers, welche zwar nur ca. 2 Prozent der Körpermasse ausmacht, doch [auch ohne besondere Aktivität und Leistung] ungefähr 20 Prozent der Energie verbrennt, war eine Herausforderung für die Beschaffung von Nahrung.
Die Evolution [2] hat eine Nische für den Erfolg der sich entwickelnden Menschheit geschaffen, da diese Spezies bereit war, zunehmend stabile und auch jenseits der gemeinsamen Beschaffung von Nahrung soziale Beziehungen [2] einzugehen.
Ein Spiel mit unklarem Ausgang, da soziale Strukturen in Gemeinschaften spätestens ab dem Punkt, an dem die reine Bewahrung der Grundlagen für das tägliche Überleben gesichert war, klären mussten, warum die Gemeinschaft weiterhin Sinn macht.
Eine Herausforderung bis heute.
All dies war ein Risiko und ein langer Prozess mit einem produktiven Ausgang, wenn wir die Dominanz [2] [3] der Vielzahl menschlicher Ethnien auf diesem Planeten als Erfolg betrachten wollen.
Wie man dabei Erfolg klassifiziert, ist eine andere Frage.
Soweit alles Schulwissen, wir kürzen ab hier ein wenig ab.
Kortikale Neuronen
Wichtiger scheint der Blick auf das menschliche Gehirn selbst. Menschen haben, wie vermutlich alle Säugetiere mit diesem zentralen Organ zur Steuerung lebenswichtiger Funktionen, eine relativ grosse Zahl kortikaler Neuronen [2] [3]. Das sind Nervenzellen im vorderen Kortex des Gehirns (Hirnrinde).
Diese speziellen Neuronen sind vorwiegend für unser assoziatives Denken verantwortlich.
Darüber hinaus regeln sie die Verschaltung dieses Teils des Gehirns (vorderer Kortex), der unser bewusstes Handeln bestimmt, mit anderen, entwicklungsgeschichtlich deutlich älteren Hirnteilen.
Eine besondere Rolle spielen dabei die Basalganglien [2] [3] [4] als häufig die entscheidende Instanz.
Doch auch das wollen wir hier nicht weiter vertiefen.
Diese kortikalen Neuronen (Nervenzellen) können Informationen [2] auf komplexe Weise verarbeiten. Wobei komplex nicht mit geordnet verwechselt werden sollte. Wir sollten weniger an den logischen und strukturierten Bau eines Hauses denken, sondern eher an den Moment, was passiert, wenn ein Blitz in einen Baum einschlägt und sich dort alles Leben neu ordnet.
Um im Bild zu bleiben: Es handelt sich eher um ein chaotisches Feuerwerk neuronaler Streuung von Informationen und Impulsen in alle Richtungen und Tiefen des Gehirns.
Wir stellen uns [menschliches] Denken gerne in Form eines Regals und der dort möglichen Ablagen vor. Oder als eine Werkbank, an der man links beginnt und rechts endet. Man könnte diesen Prozess repetitiv oder auf einem höheren Level als produktiv [2] [3] bezeichnen. Nicht zu verwechseln mit inkrementell [2] oder rekursiv.
Tatsächlich ist das Gehirn ein vollkommenes Chaos. Das, was wir im Laufe eines Lebens als Erfahrung bezeichnen, ist nicht viel mehr als die [beruhigende] Realisierung, was wir dann Erkenntnis nennen, dass es gut gegangen ist.
Eher beunruhigen sollte uns dabei: Je öfter wir den Ausgang positiv ablegen und zu unserer Vergangenheit verdichten, desto stärker entwickelt sich ein Gefühl der Sicherheit und wird damit zu unserer Gewohnheit.
Alles ist permanent in Bewegung, kein Stillstand, ständige Veränderung, nichts bleibt, wie es ist.
Im Grunde ist dies ein bedrohlicher Gedanke, wünschen wir uns doch eher, die Kontrolle über unser Tun zu haben.
Die Perspektive älterer Menschen verdrängt gerne folgendes: Die Realisierung des permanent Neuen bzw. der täglichen Veränderungen da draussen im Zusammenspiel mit den gewaltigen Prozessen im Inneren des Gehirns eines jungen Menschen ist eine stetige Herausforderung. Dieser Person wird dabei immer klarer:
In dieser Welt muss ich mich zurechtfinden. Zu dieser Welt muss ich passen. Die Regeln dieser Welt muss ich lernen.
Der Familientherapeut Jasper Juul, 1948 – 2019, bezeichnete den Vorgang im Gehirn junger Menschen in der Adoleszenz plakativ mit dem Satz: Wegen Umbau geschlossen.
Treffender und eindringlicher kann man wohl nicht beschreiben, was in dieser wesentlichen und frühen Entwicklungsphase bei Menschen vorgeht und was einen wichtigen Impuls darüber gibt, wie Lernen eigentlich funktioniert. Oder durch die unterschiedlichen schulischen Modelle nur passend und vergleichbar gemacht wird.
Wir sprachen von kortikalen Neuronen. Ein wenig erstaunlich ist, dass Orcas doppelt so viele dieser cleveren Nervenzellen haben. Ausserdem ist ihr Gehirn deutlich grösser und hat im Vergleich zum Menschen ähnlich viele Faltungen in der Hirnrinde, was gemeinhin als ein Ausdruck von Intelligenz [2] [3] [4] angesehen wird.
Der proportionale Unterschied von uns Menschen zu Orcas entspricht ungefähr der Differenz der Anzahl von kortikalen Neuronen zwischen uns und Gorillas.
Warum halten wir uns also für so viel cleverer?
Die Antwort ist ernüchternd. Vielleicht sind wir das gar nicht. Warum also die Erfolgsgeschichte der Menschheit bis heute?
Vermutlich nur ein zufälliges Glück in der Evolution im Wettstreit mit anderen Säugetieren. Die menschliche Spezies lieh ihren Körper von Säugetieren, die auf Bäumen lebten, bevor sie langsam und vorsichtig auf der ebenen Steppe ihren Körper streckte um eine neue Form der Balance zu entwickeln.
Hand
Die Agilität [2] ihres Körpers ist nicht das Besondere, denken wir an die Wunder der Natur und das, was kleine Käfer im Vergleich zum Menschen können.
Dieser Affenkörper hatte jedoch einen zentralen Vorteil, der sich als Glücksfall entwickelte:
Die menschliche Hand und die damit verbundenen Möglichkeiten.
Der Daumen dieser Hand spielt dabei die wichtigste Rolle. Er kann um alle vier Finger zirkulieren, sich im Kreis um diese bewegen, und dies war eine Finesse, ein kleines Wunderwerk darauf aufbauender Möglichkeiten, welche im Verbund mit der Entwicklung des menschlichen Gehirns ein – heute würden wir sagen – Game Changer war.
Menschen entwickelten damit motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die durch permanentes Scheitern immer wieder zu einer Lösung führten. Und sei es nur die Erfahrung, dass es so nicht funktioniert – was unter Umständen sogar wichtiger war als der Erfolg einer bestimmten Handlung.
Kleiner Sidekick dazu: In der anthropologischen Forschung geht man davon aus, dass Menschen ca. 16 000 Mal fallen bzw. mindestens stolpern müssen, bis sie zum ersten Mal sicher und aufrecht gehen können. Dagegen wirkt das Erlernen des Fahrens auf einem Fahrrad später unkomplizierter.
Folgendes nur sehr kurz: Menschen lernten, Werkzeuge zu benutzen bzw. nutzten die Dinge, die sie in ihrem Umfeld fanden, um die Möglichkeiten ihres Körpers zu erweitern. Dabei war die nach aussen gerichtete Aktion relativ banal, denkt man an das Potenzial, mit einem Ast eine Frucht von einem Baum zu schlagen.
Für die Entwicklung des Gehirns bedeutender war die Tatsache, wie die Menschheit lernte, die Symmetrie ihres Körpers (verwandt mit allen belebten Organismen auf diesem Planeten) zu nutzen und mit dem Einsatz beider Hände etwas zu bearbeiten.
Denken wir an ein Stück Holz in der [warum auch immer, doch überwiegend] linken Hand [2] und einen härteren Stein in der rechten, um daraus zum Beispiel einen einfachen, aber praktischen Keil für die Befestigung eines hölzernen Unterstandes zu schnitzen. Daraus entstand durch Wiederholung und Scheitern ein Wunderwerkzeug [2] [3].
Die Diametralität des Einsatzes dieser menschlichen Extremitäten (hier: der Hände) führte zur Ausprägung spezifischer und dominanter Spezialisierungen im menschlichen Gehirn. Die rechte Hand führte spezielle und damit sequentielle Tätigkeiten durch, um aus dem Stück Holz die passende Form zu schnitzen. Die linke Hand hielt das zu bearbeitende Stück im Ganzen so perfekt, dass die andere Hand die Feinarbeiten machen konnte.
Die linke Hand formte damit überwiegend die Ausprägung der rechten Hirnhemisphäre. Etwas überzeichnet könnten wir sagen: Die gesamte Gestalt wurde wahrgenommen, eine universelle Perspektive auf das Ding, das bearbeitet werden soll, wurde ermöglicht.
Die rechte Hand führte dazu, dass unsere linke Gehirnhemisphäre, die überwiegend unser sequenzielles und syntaktisches Denken verantwortete, entsprechende Prägungsmuster erhielt, welche wir gerne mit logischem Denken bezeichnen.
So exakt läuft das aber nicht.
Einschränkend müssen wir feststellen: Das Gehirn hat zwischen diesen beiden Ausprägungen [kognitiver Fokus und intuitiver Überblick] keine eindeutige und unüberwindbare Grenze. Wir sprechen eher von dominanten Aspekten und prozessualen Aufgaben, die im Gehirn immer ganzheitlich wirken und nie isoliert.
Warum aber wurden wir nun [scheinbar] erfolgreicher als die Orcas?
Schrift
Das vielleicht mächtigste Werkzeug, das die Menschheit entwickelt hat, ist die Schrift. Damit wurde es nicht nur möglich, die Vergangenheit über die eigene Lebensspanne hinaus für die folgenden Generationen zu konservieren, es war auch möglich, ein Bild der Zukunft zu zeichnen. Vor allem jedoch entstand ein Mittel zum Austausch in einem sozialen Geflecht ohne Grenze. Solange die andere Seite in der Lage war, zu lesen.
Die Grenzen des Raumes und darin des eigenen Körpers wurde über die Erfindung und Entwicklung der Schrift der Endlosigkeit übergeben. So wie jede Religion auf Riten und Ritualen [2] basiert, die oft im Zusammenhang natürlicher Phänomene standen und dem Unbeschreiblichen und Unbestimmbaren eine Stimme geben sollte, so wurde die Schrift zu einem universellen Mittel der Beschreibbarkeit von allem, was Menschen [noch] nicht verstanden.
Was für eine sureale Erfahrung das sein musste, wenn wir an die Inflation all dessen denken, wie unsere Gegenwart heute mit Belanglosigkeiten geflutet wird.
Behalten wir dies einen Moment im Kopf. Erkennen wir Ähnlichkeiten und Muster, wenn wir nun an die kortikale Neuronen auf der Oberfläche unseres Gehirns, dem vorderen Kortext, denken und dies mit dem Werkzeug Schrift auf der Oberfläche des menschlichen Lebens auf diesem Planeten vergleichen?
Als ein zentraler Gedanke in diesem Text noch einmal die Wiederholung:
Die Schrift führte zur Aufhebung aller Grenzen und damit zu einer Form der Unbestimmbarkeit aller damit verbunderer Möglichkeiten.
Dazu passt ein Zitat von Ludwig Wittgenstein, 1889 – 1951:
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.
Kurzer Einschub: Wittgenstein’s Zitate sind in vielen meiner Texte ein wertvoller inhaltlicher Begleiter. Warum? Ludwig Wittgenstein hat – aus meiner Sicht – die Sprache wie ein Archäologe behandelt. Er hat die Begriffe, deren Bedeutung, vor allem deren Zusammenspiel Schicht für Schicht abgetragen und war damit auf der Suche nach dem Wesen dessen, was Sprache und Sprechen als sozialen Akt und als Ausdruck einer Gesellschaft als Ganzes verdeutlicht. Wann man genau hinschaut.
Zurück zum Thema:
Die Schrift war und ist nur das Werkzeug einer Beschreibung. Sie war und ist in sich absolut neutral und damit enthoben einer inhärenten bzw. eigenen Intention. Auch die Intention entzieht sich der Bestimmbarkeit, da ihr Weg zu einer Lösung im Verborgenen bleiben muss. Sonst wäre es keine Intuition.
Intuition definiert die Qualität ihres Beitrags zu einer Lösung durch die Nichtdefinierbarkeit ihres Weges, welcher dazu führte.
Sonst wäre es keine Intuition.
Um diese Aussage zu präzisieren: Wenn wir hier von Schrift sprechen, dann beziehe ich mich auf das global am weitesten verbreitete bzw. heute dominante Lateinischen Alphabet. Schriften können auch Bildzeichen sein (wie bei Chinesischen Schriftzeichen) und auch das Lateinische Alphabet entwickelte sich aus Zeichen und Symbolen.
Hier sprechen wir von der Schrift als System, nicht von der Anwendung bzw. Repräsentation von Inhalten und Bedeutungen. Auch wenn wir im Folgenden beides nicht trennen können.
Schrift ist absolut neutral. Sie kann alles beschreiben. Schreiben ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Sprechen.
Beiden gemeinsam ist: Sprache (die Mutter des Sprechens und Schreibens) macht ohne ihre Verwendung keinen Sinn. Ohne eine konkrete Anwendung und damit auch den Einsatz der mit den Wörtern verbundenen Regeln für deren Kombinatorik in einem Satz, also einem Gefüge mehrerer Wörter, entsteht keine Aussage bzw. damit keine Botschaft, die [erst dann] gelesen und idealerweise verstanden werden kann (Dechiffrierung).
Sprechen
Auch wenn wir die Lautschrift kennen, um Informationen für die richtige Aussprache bzw. Betonung von Wörtern zu erhalten, so kann man mit dem lateinischen Schriftsystem und den 26 Buchstaben (in der deutschen Version gibt es vier weitere) alles schreiben, auch ohne dass man verstehen muss, was das Wort bzw. der Satz bedeutet oder was damit bezeichnet werden soll.
Das klingt ein wenig absurd.
Gleichwohl kennen wir vermutlich alle den Versuch, den Text eines Liedes mitzusingen, auch wenn wir nichts davon verstehen. Einfach, weil wir das Lied schön [2] [3] finden.
Warum ist das wichtig?
Diese Form der Imitation von dem, was uns gefällt oder was wir für wichtig erachten (vielleicht auch müssen), ist vergleichbar mit dem Prozess, wie Kinder Sprache lernen.
Sie brabbeln etwas nach und prüfen, ob die Anwendung eines Wortes passt (man anderen gefällt bzw. verstanden wird) und damit funktioniert.
Die Aussprache des Wortes ist damit ein früherer Teil in der Kommunikation als die Kenntnis darüber, was das Wort bedeutet.
Letztlich ist diese kommunikative Unschärfe immer ein Aspekt angewandter Sprache. Beim Sprechen und, in abgeschwächter Form, auch beim Schreiben, also der Anwendung in Schriftform.
So oder so, es geht um Verständnis. Wie bei einem Gebäude. Ohne einen Schlüssel für den Zugang zum ersten Raum bleibt uns das Haus als Ganzes fremd.
Der Konstruktivismus [2] [3] [4] spricht hier von Koppelung und meint, wir würden immer mit Mitteln der Kommunikation in der jeweiligen Gegenwart mit anderen verhandeln, damit Konsens generieren und die Sicherheit einer gemeinsamen Vergangenheit anhäufen.
Eigentlich ist das eine Illusion. Wenigstens zum Teil.
Denn dieser Prozess ist nie abgeschlossen. Wäre Kommunikation ein Patient, der als Ziel der Heilung absolute Verständlichkeit anstrebt, so würde dieser nie die Behandlung verlassen.
Noch einmal Ludwig Wittgenstein dazu:
Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen (wissenschaftlichen) Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.
Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.
Das Entschlüsseln beim Lesen und Verstehen, sind die Essenz und das Wesen von Kommunikation.
Zwei Grundbedingungen müssen immer erfüllt werden. Sonst findet keine Kommunikation statt.
Entweder zwei Parteien (Personen) kennen ein Wort (im Sinn einer in sich geschlossenen Unit), das eine Bedeutung hat, und können dieses praktisch (de facto) oder ideell zuordnen und damit verstehen, oder sie bezeichnen etwas und verhandeln (klären) in der Folge das gemeinsame Verständnis dessen, was bezeichnet wurde.
Eigentlich findet keine der beiden Versionen in reiner Form statt. Weder die maximale Eindeutigkeit eines gemeinsamen Verständnisses gegenüber einer bezeichneten Sache, noch die vollkommen sinnbefreite Bezeichnung und damit eine gemeinsame Klärung aus dem Nichts sind in der Realität vorstellbar.
Selbst wenn ein Wort, eine Sprache, ihre Syntax oder die paraverbale Ebene der sprechenden Person unbekannt ist, gibt es immer einen [sozialen] Kontext, in dem Kommunikation stattfindet.
Kommunikation ist mit – vor dem Hintergrund der hier aufgestellten Hypothese – immer möglich.
Weder eine maximale Übereinstimmung (dann gäbe bzw. bräuchte es keine zwei Parteien bzw. Personen) noch die maximale Deutungslosigkeit (dann würden sich die Parteien bzw. Personen nicht wahrnehmen können) sind in der [uns bekannten] Realität vorstellbar, wir könnten auch sagen: beschreibbar.
Solange Licht auf diesen Planeten fällt, Physik und damit Bewegung überall nach vergleichbaren Prinzipien funktioniert, damit elektromagnetische Prozesse in belebten Körpern (wie dem menschlichen) Leben ermöglichen, ist irgendeine Form von Kommunikation möglich.
Es geht mir dabei weniger um eine thematische Tiefbohrung, sondern mehr um die Ausbreitung und Vernetzung auf der Fläche des Themas.
Dazu ein einfaches Beispiel:
Kinder
Ein Kind von etwa einem Jahr sitzt auf der Schulter der Mutter. Sie gehen die Strassen an ihrem Wohnort entlang. Die beiden haben Zeit, bleiben hier und da stehen. Die Mutter spricht ohne eine konkrete Absicht über dieses und jenes, was die beiden sehen [können].
Als sie eine Strasse überqueren, schaut das Kind nach oben, sieht einen Vogel, zeigt mit dem Finger in die Richtung und sagt freudig: Da, oben!
Das Beispiel ist in seiner alltäglichen Banalität vermutlich kaum zu übertreffen und erfüllt damit sehr gut die Absicht dessen, was mir in dem Zusammenhang wichtig ist: die intrinsische, vor allem die Unvermeidbarkeit von Kommunikation und Lernen.
Mit einer gewissen Zuspitzung und einer Portion Poesie könnte man sagen: So wie wir beatmet werden und unser Herz von allein schlägt, so ist Lernen ein unvermeidbarer Vorgang unseres Lebens.
Wir können uns nur mit dem für uns oder generell Falschem beschäftigen. Unserem inhärenten Lernzwang ist es vollkommen egal, unsere Wahrnehmung zwingt uns zur Verwertung dessen, mit was wir Tag und Nacht konfrontiert werden.
Vermutlich wird es unserem Gehirn in der Nacht etwas langweilig. Es hört ja nie auf, aktiv zu sein (wie unsere Lungen, wie unser Herz). Und da wir so ohnmächtig im Bett liegen, beschäftigt es sich alleine. Wir träumen.
Das Kind zeigte auf den Vogel, verband diesen Augenblick mit der Erfahrung des eigenen noch kurzen Lebens, war getragen von der entspannten Situation sowie der Sicherheit gebenden Mutter, und sagte Da, oben!
Im Prinzip haben wir damit die wichtigsten Aspekte für Lernen in Kombination mit Kommunikation erkannt und in einfachen Worten beschrieben. Warum?
Im Zusammenspiel der gemeinsamen Situation (sozialer Kontext) war die Bemerkung des Kindes (Da, oben!) sowohl eine Bezeichnung, die in eine eindeutige Richtung wies, als auch eine, die das Unten klärte bzw. der Mutter erklärte.
Die Bemerkung war vermutlich, wenn auch schwächer, mit dem Ziel der Betrachtung (Vogel) vernetzt. Der Vogel war damit die Untermenge der kommunikativen Aussage des Kindes.
Es könnte jedoch auch anders sein.
Wichtiger ist die soziale Dimension der Szene: Das Kind fühlt sich [auf der Schulter der Mutter] getragen und erfährt die Sicherheit aus der Geborgenheit mit der Mutter als einen entspannten Augenblick, dass es der eigenen Neugier folgt und – ohne Sorge – den Blick nach oben schweifen lässt.
Im Prinzip alles ganz einfach und so normal.
Das Unbestimmbare (in absoluter Form) begleitet uns in diesem Text und erhält in dem folgenden [geschichte] einen historischen Zusammenhang.
Geste
Der präzise Blick auf die Szene bleibt wichtig: Das Kind zeigte mit dem kleinen Finger nach oben, und eben dieser Finger wird damit zu einer Geste [2], wir könnten auch sagen, zu einer Referenz [2], welche interpretiert werden muss, um sie zu verstehen.
Idealerweise verbindet sich die [gesprochene] Aussage deckungsgleich mit der Geste (als sinnstiftendes Zeichen).
Doch Menschen sind (wie andere Säugetiere) nicht nur in der Lage, sie sind durch ihre Neugier getrieben, etwas verstehen zu wollen. Darüber sprachen wir schon weiter oben.
In freier Ableitung zu dem bekannten Axiom [2] von Paul Watzlawick, 1921 – 2007:
Man kann nicht nicht kommunizieren.
könnte man auch sagen:
Man kann nicht nicht interpretieren.
Wir sprachen über die Hand und damit die Finger. Wir sprachen über mögliche Gesten als Referenz.
Die Hand und ihre fünf Finger sind allerdings auch eine metrische Einheit und lösen sich damit in besonderer Weise aus der Kontinuität der Einbindung in einen kommunikativen Prozess (auch wenn die Geste ein Zeichen darstellen soll). Was ist damit gemeint?
So wie der Lauf der Sonne und die Schatten, die damit verfolgbar sind, so sind menschliche Aktivitäten weitgehend koninuierliche Abläufe. Jedoch mit einer hierarchischen Logik bzw. Abhängigkeit.
Einzelne Aspekte in der Kommunikation supervenieren über die anderen. Das bedeutet, dass sie zum Beispiel dem Gespräch eine dominante Wendung geben.
Die Kommunikation bzw. der Prozess des Lernens vertikalisiert sich, da ein Aspekt die anderen Optionen überlagert.
Digitus
Bei dem lateinischen Wort Digitus fürFinger ist ein Zeigestab gemeint, welcher als Zeichen in einem liturgischen Ablauf dient. Damit wird angezeigt, welche Stelle in einem Messbuch gelesen werden soll. Warum sollte uns das hier interessieren?
Der Digitus wird zu einer gedanklichen und habituellen Brücke dessen, was in unserer Gegenwart als Standard unseres Lebens wahrgenommen wird.
Die Mechanisierung [2] der produktiven Welt hat in den vergangenen ca. 200 Jahren zu einer stetig wachsenden Fragmentierung der von Menschen gemachten Welt geführt.
Das diskrete Signal, die Zerteilung kontinuierlicher Prozesse (Signale) in offene und damit variable Abläufe (für immer mehr Varianten des häufig Gleichen), öffnete die Türe zur Digitalität, wie wir sie heute kennen bzw. als natürlich wahrnehmen.
Zuerst wurde die Zeit in immer kleinere Einheiten gepresst. In der Folge davon alles andere.
Es scheint, dass die Teile so fein werden, sich wie unsichtbare Partikel, wie Staub als eine Art zweite Schicht oder – wenn man so will – als [künstliche] Aura um alles gelegt haben, dass sich damit auch der Umgang mit der Welt ändert.
Treibsand besteht im Prinzip nur aus Sand und Wasser. Unter dem Einfluss von Druck entsteht eine besondere Flüssigkeit, die in der Folge den Untergrund unsicher macht.
Wir kennen das am Strand bei dem Wasser, das nach der Welle wieder in den Ozean zurückfliesst.
Wir können kaum stabil stehen, obwohl wir doch so viel grösser und schwerer sind als ein Sandkorn.
Doch die Menge der Körner, besonders die sehr kleinen Abstände zwischen diesen, verhindern das Abfliessen des Wassers. Der Wasserdruck ist stärker, der Boden wird porös und unsicher.
Ein wenig beschreibt dies unsere Welt. Eine Welt, die zunehmend durch eine Art digitalen Treibsand an Stabilität zu verlieren scheint.
Damit sind wir in diesem Text wieder dort angekommen, wo Orcas leben. Im Wasser. Ein flüchtiges Element, das als Metapher gut die Erfindung der Schrift und aller darauf folgenden Entwicklungen charakterisiert. Warum? Ganz einfach:
Es wurde möglich, der Zeit zu entkommen. Das Gesagte diffundierte nicht in dem Augenblick, in dem es ausgesprochen wurde, es konnte aufgeschrieben werden. Nicht nur die Unsterblichkeit wurde erreichbar.
Das Geschriebene wurde wie die Sandkörner zu einer unendlichen Menge an Variationen dessen, was richtig und falsch sein könnte. Und auf diesem Untergrund sucht das, was wir heute Lernen nennen einen möglichst festen Untergrund.
Doch das wird immer schwieriger.
© Carl Frech, 2025
Die Nutzung dieses Textes ist wie folgt möglich:
01 Bei Textauszügen in Ausschnitten, zum Beispiel als Zitate (unter einem Zitat verstehe ich einen Satz oder ein, maximal zwei Abschnitte), bitte immer als Quelle meinen Namen nennen. Dafür ist keine Anfrage bei mir notwendig.
02 Wenn ein Text komplett und ohne jede Form einer kommerziellen Nutzung verwendet wird, bitte immer bei mir per Mail anfragen. In der Regel antworte ich innerhalb von maximal 48 Stunden.
03 Wenn ein Text in Ausschnitten oder komplett für eine kommerzielle Nutzung verwendet werden soll, bitte in jedem Fall mit mir Kontakt (per Mail) aufnehmen. Ob in diesem Fall ein Honorar bezahlt werden muss, kann dann besprochen und geklärt werden.
Ich setze in jedem Fall auf Eure / Ihre Aufrichtigkeit.