REANIMATIONSPOLITIK

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Politik sollte vor allem eine Strategie für eine gelingende Zukunft sein. Zum Wohle aller. Und allem. Oft aber reagiert Politik erst dann wenn es fast zu spät ist.

Kritik ist so leicht. Natürlich weiss man mit Abstand oder mit dem Blick zurück immer besser, was besser gewesen wäre. Und das, was man in irgendeiner Gegenwart als das Bessere identifiziert, ist noch keine Garantie, das beste Lösungsmodell für die Zukunft zu sein. Sicher darf man vermuten, die Komplexität der Einflussfaktoren, also die Frage, warum Menschen sich in der Zukunft in der einen und nicht in einer anderen Weise verhalten, sich also entscheiden, stellt immer eine [politische] Dimension dar, die vermutlich niemand komplett überblicken kann.

Gleichzeitig ist es das institutionelle Primat der Politik sich genau dieser Aufgabe zu stellen. Die Aufgabe hängt dabei immer an der Gabe jener Menschen, die sich berufen fühlen, eine führende Rolle in einer Gesellschaft und den Aufgaben der jeweiligen Zeit zu übernehmen.

Diese Aufgabe muss die schwierige Balance zwischen den Zugkräften der Macht, also dem konkurrierenden Umfeld anderer Interessen sowie dem Sinn und Nutzen jeder politischen Aktivität generell finden und aushalten. Niccoló Machiavelli, 14691527, hat dazu eines der bekanntesten Zitate geliefert, die das Spannungsfeld der Politik gut und knapp formuliert:

Politik ist die Summe der Mittel, die nötig sind, um zur Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten und um von der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen.

Niccoló Machiavelli

Meine Perspektive auf die Politik reicht inzwischen ein paar Jahrzehnte der mehr oder weniger aufmerksamen Beobachtung und Wahrnehmung zurück. Mich beschäftigen im Folgenden keine besseren oder schlechteren Zeiten und damit die Auf- oder Abwertung einzelner politischer Kräfte. Das wäre zu einfach, da sich immer Gründe zum Klagen finden. Gleichwohl scheint mir wichtig, kritisch auf Entwicklungen zu achten, die sich allzu selbstverständlich in die Gemengelage des politischen Alltags eingeschlichen haben.

Damit meine ich die Verlockung der diffusen Verteilung von Verantwortung ins Unüberblickbare.

Damit meine ich die zunehmende Unverbindlichkeit von Entscheidungen im Zusammenspiel ausbleibender Konsequenz, wenn diese Entscheidung sich zum Nachteil für die Gesellschaft entwickelt.

Und damit meine ich eine neue Wirkmächtigkeit subtiler Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die mittels digitaler [sozialer] Medien demokratische Prozesse umfassend manipulieren können und dieses Potenzial für ihre Zwecke nutzen.

Ein Wortstamm des Begriffes Politik ist das altgriechische Polis, was im Ursprung Stadt bedeutete. Damit war die Aufgabe verbunden, all jenes zu regeln, was für das überschaubare Gemeinwesen einer Stadt notwendig war. Nicht zuletzt, um das Miteinander so zu gestalten, dass das System der Stadt [systemisch] funktionierte. Es wäre naiv, würde man diesen historischen Hintergrund idealisieren. Es war vermutlich noch ausgeprägter als heute, ein System der Macht bzw. dem Schutz von Privilegien einzelner sozialer Gruppen.

Jede soziale Struktur basiert auf dem Potenzial ihrer Überlebensfähigkeit, die mit der Gemeinschaft höher sein muss, als dies für die Einzelnen erreichbar wäre. Hier könnte man anthropologisch einige Türen aufmachen. Das will ich bewusst nicht. Aber ich will die Idee dessen, warum Menschen sich, aus welchen praktischen oder spirituellen Gründen auch immer, Regeln für ihr Zusammenleben gegeben haben, mit dem folgenden Satz möglichst prägnant formulieren:

Jedes System und damit jede Regel für das menschliche Zusammenleben basiert immer auf jenen positiven Effekten, die für den dominanten Teil der Gemeinschaft erzielt werden können.

Es wird bei kurzem Nachdenken schnell klar, dass sich damit diktatorische und autokratische Systeme von pluralistischen bzw. demokratischen [2] Systemen ideologisch unterscheiden sollen.
Aber eben nicht im Prinzip!

In einer Diktatur ist der dominante Teil einer Gesellschaft naturgemäß kleiner, bis hin zur Reduktion auf eine Person. Nahezu jede Monarchie verfolgte diese hierarchische Logik wie auch unterschiedlich sich entwickelnde Gesellschaftsformen der vergangenen ca. 250 Jahre auf dem Weg zu einer Struktur und einem Selbstverständnis, was sich im heutigen Verständnis als Demokratie bezeichnet und dies gegen andere Systeme verteidigt.

Aber wie gesagt, die Systeme unterscheiden sich vor allem, wenn wir moralische und damit ethische Kriterien anlegen, das Prinzip der Logik der Macht unterscheidet sich jedoch nicht. Oder nur geringfügig. Die dominante Gruppe in einer Gesellschaft entscheidet immer über die Regeln und damit die Richtung, welche diese Gesellschaft für sich reklamiert. Dabei ist der Begriff der Entscheidung bedeutend.

Für den Begriff Entscheidung gibt etymologisch viele Quellen. Die für mich eindringlichste ist jene, die ihren Kern im Zusammenhang der Prinzipien historischer Kriegslogik findet: Zwei Heere stehen sich sichtbar gegenüber und warten auf das Zeichen ihres Anführers (in der Regel waren das Männer). Dieses Zeichen wurde in den vergangenen Jahrhunderten, solange Schlachten noch mit dem Schwert entschieden wurden, sowie innerhalb der uns bekannten Kulturkreise, dadurch unmissverständlich, dass der Anführer sein Schwert aus der Scheide gezogen hat und damit das Zeichen zum Angriff auslöste.

Man kann sich ohne Mühe vorstellen, denken wir an vielleicht 1.000 Krieger (auch hier sprechen wir üblicherweise von Männern), diese Heere warteten auf diese symbolische [2] Geste, um direkt danach geschlossen ihre Aufmerksamkeit auf den Angriff richten. Das war das gemeinsame Ziel. Eine Zurücknahme dieser Entscheidung war nicht mehr möglich. Wie stoppt man 1.000 Krieger nach dem Beginn eines Angriffes?

Die Konsequenz einer Entscheidung scheint heute in der Dynamik bzw. der Komplexität der Themen zu diffundieren. Man könnte auch sagen, die Unübersichtlichkeit der Strukturen befördert die Auflösung von Verantwortung hin zu einer institutionellen Emulsion, welche jede Transparenz und damit Sichtbarkeit auf den Ursprung der Instanz verschleiert.

Entscheidungen basieren auf Verantwortung und diese kann nur von jenen geleistet werden, die auch die Kompetenz dazu haben, also eine Antwort geben zu können. Aus einer eher historischen Perspektive wird eine Entscheidung von der machthabenden Person getroffen. Mehr oder weniger legitimiert durch einen pluralistischen Prozess. Hauptsache die Führung ist installiert und damit die [zum Beispiel in einer parlamentarischen Demokratie] Notwendigkeit eigener Beteiligung an der Entscheidungsfindung ist nicht mehr nötig. Auf eine gewisse Weise wird diese temporär ausgelagert.

Das Gegenmodell wäre der diskursive Prozess zu einem Kompromiss bzw. Konsens in Form aktiver Beteiligung an den zu entscheidenden Themen, Herausforderungen bzw. Problemen, die eine Lösung nötig machen. Was in einer kleinen Gruppe selbstverständlich erscheint, nehmen wir eine Familie, einen Kreis von Freunden, Menschen, die sich verschiedene Phasen eines Arbeitsprozesses [2] teilen, wird ab einer gewissen Grössenordnung logischerweise immer komplizierter, warum die Natur ihren Erfolg immer auch auf der Grundlage von Strukturen, von Hierarchien und klar geregelten Abläufen gründete.

Möglicherweise aber gerät die Eleganz und Effizienz dieser [evolutionären] Ordnung ab einer gewissen Grössenordnung, man könnte auch von einem Schwellwert sprechen, der dann zu einem Kipppunkt wird, ein wenig in Unordnung, da entweder die Übersicht abhandengekommen ist oder die Dynamik einer Überprüfung schlicht die Zeit nimmt.

Jedes Zusammenleben basiert auf Strukturen, auf der Organisation derselben und den Inhalten, die innerhalb dieses Systems permanent verhandelt und damit verändert werden.

Die Systemtheorie [2] von Niklas Luhmann [2], 1927 – 1998, verbindet das Politische System über eine Verfassung mit dem Rechtssystem [2], dieses wiederum über das Recht am Eigentum [2] und den damit verbundenen Verträgen mit dem Wirtschaftssystem, was wiederum über Steuern [2] und Abgaben die Grundlage für das Funktionieren des Politischen Systems sorgt.
Im idealen Fall sind diese drei Bereiche in einer guten Balance, unabhängig (genug) und sorgen füreinander.

Das Wirtschaftssystem kümmert sich um die Werte einer Gesellschaft, das Rechtssystem logischerweise um das jeweils gültige Recht und das Politische System um die Macht, konkrete Entscheidungen als ausführender Wille der Gesellschaft zu treffen.

Nun, alle Teile dieses gesellschaftlichen Systems bündeln komplexe Aufgaben und Anforderungen. Die aktuelle Logik einer [westlichen] Demokratie externalisiert diese Anforderungen an die mehr oder weniger direkt gewählten Organe, also jene Institutionen, die sich das aufteilen, was seit jeher Kern menschlicher Ordnung (oder Unordnung) war: die Gewalt [2].

Wobei sich die Möglichkeit zur direkten Wahl der einzelnen Organe deutlich unterscheidet. Bietet das Politische System periodisch eine direkte Wahl von Personen als Vertreter:innen der eigenen Interessen, so ist das Rechtssystem nur indirekt wählbar, das Wirtschaftssystem im Prinzip gar nicht mehr. Ausser man betätigt sich selbst mit einem eigenen Unternehmen.

Diese Betrachtung wird in der Folge zu diesem Text mit dem Titel Reanimationspolitik noch etwas wichtiger.

Wenn wir also von dem Prinzip der Gewalt in einem gesellschaftlichen System sprechen, dann ist es auf eine gewisse Weise entlarvend, wenn man von Gewaltenteilung spricht. Man könnte ja auch von Entscheidungsteilung oder von Verantwortungsteilung sprechen. Auf der anderen Seite ist es aber eine gute Portion Ehrlichkeit, da es exakt darum geht. Es geht um die Macht, es geht um das Prinzip, ein Ziel bzw. das Recht mit Gewalt durchzusetzen.

Nun, es ist sicher eine edle Position, wenn die Politik sich generell als Institution beschreibt, die um den besten Kompromiss ringt, um damit einen für die Mehrheit akzeptablen Konsens zu erreichen.
Allerdings, betrachtet man die gegenwärtigen Formen institutioneller Politik und ihre konkreten Ergebnisse, dann wirkt eben jene Politik bzw. wirken ihre Vertreter:innen vielfach nur noch moderativ [2], fast kontaktlos zu dem Thema über das sie sprechen; bzw. transformativ, eher wie ein Halbleiter, der für Spannungsausgleich sorgt, ohne die Konsequenz einer Umsetzung dessen, was Politik sein sollte:
Eine Strategie für eine gelingende Zukunft.
Auch mit der Notwendigkeit einer Entscheidung, die erst langfristig wirksam wird.

Moderation bedeutet im Wortsinn die Gestaltung eines sozialen Prozesses, der ein gemeinsames Ziel verfolgt. Transformation bedeutet, dieses Ziel zu einer konkreten Umsetzung zu führen und dann Realität werden zu lassen. Dafür bleibt jedoch oft kaum die dafür notwendige Zeit, oder die Zeit wäre vorhanden, aber der Mut zu einer konsequenten Entscheidung fehlt.

Jedes System tendiert zur Anonymität, wenn es den teilhabenden Menschen keine Vielfalt für deren Individualität anbietet. Ich spreche in diesen Fällen gerne von Systembewohnern, nicht als Vorwurf gegenüber den Menschen, die in komplexen institutionellen Organisationen tätig sind, sondern als eine kausale Logik der Entfremdung, die scheinbar zur Genetik dieser Systeme gehört.

Der Begriff Genetik ist bei diesem Gedanken durchaus hilfreich. Bedeutet der Begriff doch in seinem Wortstamm Abstammung oder auch die Lehre der Vererbung. Wobei wir hier natürlich nicht von Genetik im biologischen Sinn sprechen. Es geht mir, wie bei allen Texten und Betrachtungen, um Muster und damit um Ähnlichkeiten.
Es würde überdies meine Kompetenz in Bezug auf Politikwissenschaft und damit der geschichtlichen Hintergründe weit überschreiten, wollte ich hier sehr tief bzw. analytisch vordringen, doch ein paar Gedanken sollen hier einen Platz finden.

Letztlich ist Politik vorwiegend davon gekennzeichnet, dass eine zentrale Instanz die gesellschaftlichen Regeln definiert und damit exekutierbar macht. Interessant dabei scheint der Unterschied zwischen einem Gebot, einer Regel und einem Verbot (dazu passt auch das Essay mit dem Titel Information).

Ein Gebot ist eine Anweisung, die erst im Fall einer Nichtbeachtung und einem nachfolgenden Schaden für andere zu einer Strafe führen kann. Ohne diesen Schaden wird eine Nichtbeachtung möglicherweise sozial kritisch eingeordnet, bleibt aber ohne Folgen.

Eine Regel basiert auf dem lateinischen regula und bedeutet im Wortstamm Maßstab oder Richtschnur.
Eine Richtschnur wird vorwiegend in der Architektur bzw. zum Bauen von Gebäuden verwendet. Man nutzt eine straff gespannte Schnur, um zum Beispiel ein Fundament so auszurichten, dass die darüber geplante Struktur des Gebäudes und seiner Räume entsprechend der Planung realisiert werden kann. Man trennt in dieser frühen Bauphase das Innere von dem Äusseren bzw. definiert exakt eine Linie, also eine Richtung und trifft folglich eine Entscheidung für eine Konstruktion, die sicher ihren Zweck erfüllen soll.
Das Ziel ist eine Statik die belastbar sein muss, da sie eine Funktion haben wird bzw. einen Nutzen für jene, die später das Gebäude bewohnen oder darin arbeiten.

Wer mag, kann mit dieser Metapher in eigene Richtungen weiterdenken.

Darüber hinaus basieren Regeln immer auf der direkten oder indirekten Verhandlung einer Gruppe von Menschen, die sich damit einen sozialen Rahmen geben. Soziales Verhandeln meint hier das Ausprobieren und der darauf aufbauenden Evaluation, also der Bewertung des Erreichten. Wurden die Ziele für die Mehrheit einer Gemeinschaft realisiert oder müssen die Regeln verändert werden?

Man sammelt Erfahrungen und Erkenntnisse über einen gemeinsamen Prozess und justiert dann, wenn es sinnvoll ist. Allerdings in jedem Fall, wenn es zwingend notwendig wird, wenn dadurch ein Schaden für die Gesamtheit oder den dominanten [nicht zwingend den grössten] Teil einer Gemeinschaft vermieden werden soll.

Regeln definieren dadurch die Spannbreite zwischen Geboten und Verboten. Sie sind verbunden mit Konventionen und Normen [2], wie auch – je nach Relevanz – mit der Moral und damit der Ethik, welcher sich eine Gemeinschaft bzw. eine Gesellschaft verpflichtet fühlt.

Jedes Gebot und jedes Verbot ist immer eine Regel mit unterschiedlicher Konsequenz bei Nichtbeachtung. Aber eine Regel ist nicht automatisch ein Gebot bzw. ein Verbot. Eine Regel kann auch eine simple Handlungsanweisung sein, vergleichbar mit einem Bauplan, der klar macht, nur diese Regelmäßigkeit führt zu dem gewünschten Ergebnis, ein anderer Ablauf eben nicht.

Jede Gesellschaft gestaltet durch Regeln ihr Ziel einer funktionierenden Gemeinschaft und damit einer gelingenden Zukunft. Damit verbunden ist der Begriff Freiheit und indirekt dem freien Willen.
Freiheit ist das direkte Geschwister der Sicherheit.

Die [extrovertierte] Freiheit will raus, will Neues wagen, will die Welt umbauen und infrage stellen.
Die [introvertierte] Sicherheit will das bewahren, was sich bewährt hat, will das schützen, was bis zu diesem Zeitpunkt Schutz bot.

Jede Gesellschaft schafft und benötigt ihre Schutzräume als Basis sozialen Friedens. Ich sprach weiter oben von der Macht des dominanten Teiles einer Gesellschaft, welcher nicht zwingend der grössere sein muss. Schaffen es nun Gesellschaften, ihren [überwiegende ökonomischen] Erfolg so zu gestalten, dass der soziale Frieden gesichert bleibt (man könnte auch sagen: dieser bezahlbar bleibt), ohne die eigene Macht zu gefährden, dann scheint alles irgendwie in Ordnung. Eben so lange, wie alle in diesem System zufrieden sind.

Man kann das, wenn auch über einen gedanklichen Umweg, mit dem Ansatz des Netzwerk-Marketings beschreiben (eine Version ist das frühere Multi Level Marketing bzw. heute auch die sogenannte Plattform-Ökonomie) [2] beschreiben. Diese hierarchische Struktur der Teilnahme an einem ökonomischen [Verkauf] Prozess basiert auf dem Angebot einer Person bzw. einer kleinen Gruppe, welche [den Verkauf] dieses Angebots auf einer darunter liegenden Ebene mit [akquirierten] Mitspieler:innen teilt. Diese zweite Ebene teilt wiederum ihren Erfolg mit der darunter liegenden Ebene und den dortigen Teilnehmer:innen. Und so weiter.
Der Begriff Erfolg ist hier allerdings verführerisch.

Tatsächlich geht es nicht um Erfolg, sondern um Ertrag. Dieser [geteilte] Ertrag soll für die Ebene darunter so gering wie möglich sein. Wichtig ist vielmehr, dass diese und alle Ebenen darunter erfolgreich sein müssen. Das bedeutet idealerweise, sie sollen nach dem gleichen Prinzip der maximalen Mitnahme einer Rendite und der möglichst geringen Abgabe an die Ebene darunter operieren. Wichtig ist dabei die Zufriedenheit auf jeder Ebene, idealerweise damit verbunden, dass die Logik des Systems als Ganzes nicht erkannt wird.

Nimmt man ein konstruktives Symbol, dann entsteht eine Pyramide, die formal den Erfolg visualisiert. Wer oben ist verdient am meisten, wer ganz unten ist, verdient am wenigsten. Wobei die Form einer Pyramide das Wesen dieser Struktur eigentlich idealisiert. Es sind eher stark konkave (nach innen gewölbte) Linien, die dieser Form in Bezug auf die Verteilung von Erfolg bzw. von Macht ihren Ausdruck verleiht. Die Basis dieser konkaven Struktur muss möglichst breit angelegt sein, um seine Wirkmächtigkeit nach oben entfalten zu können.

Wer ganz oben ist, verdient extrem viel mehr. Wer ganz unten ist, verdient extrem viel weniger. Die Kunst liegt nun darin, die Illusion von Gerechtigkeit, von Fairness und Teilhabe in jenem relevanten Teil einer Gesellschaft zu erhalten, welcher für den Machterhalt der dominanten Gruppe bedeutend ist.

Und das ist in jedem System der weitaus grösste Teil einer Gesellschaft. Darin unterscheiden sich Diktaturen oder Autokratien zwar ideell stark von pluralistisch oder föderal organisierten Demokratien. Aber es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Das wird in einem eindringlichen Zitat von Maximilian de Robespierre, 17581794, deutlich:

Das Geheimnis der Freiheit liegt in der Bildung, während das Geheimnis der Tyrannei darin besteht, die Menschen dumm zu halten.

Maximilian de Robespierre

Nun kann man weder die Zeit von Robespierre mit heute vergleichen, noch wäre es statthaft, eine Demokratie mit regelmäßig freien Wahlen, mit Gesellschaften zu vergleichen, die ohne diese Form der gleichrangigen Teilnahme organisiert sind. Dies will und muss ich hier klar betonen.
Mir geht um Prinzipien, um Ähnlichkeiten, um Muster und damit darum, was wir erkennen sollten bzw. was vielleicht auch im Verborgenen bleiben soll.

Es stellt sich schon die Frage, welche Möglichkeiten die Politik heute im Zusammenspiel globaler [ökonomischer] Akteure tatsächlich hat. Es stellt sich die Frage, welche neuen Gebilde sich im globalen Machtgebilde langfristig organisieren und – aktuell eher einem trojanischen Pferd vergleichbar – zunehmend wirksam sein werden.

Es stellt sich die Frage, an welcher Stelle sich eine gesellschaftliche Gruppe auf dem eben beschriebenen konkaven Gebilde verortet sieht. Mit einem lokalen oder regionalen Fokus betrachtet, sieht die Verantwortung für das Ganze sicher anders aus, als wenn man sich die [konkave] Struktur grösser, als nationales oder als globales Gebilde vorstellt.

Dann wird schnell klar, dass es eine, wenn auch weit entfernte und fremde, aber doch breite Basis geben muss, welche dem eigenen Level all das bietet, was genügend Zufriedenheit beschert.

Ja, klar, das klingt und tendiert eindeutig in eine Richtung, die man als moralisch bezeichnen darf. Aber genau darum geht es. Im Kern, im Zentrum aller Betrachtungen sprechen wir immer von Moral. Jedes soziale Regelwerk hat einen moralischen Kodex, einen Überbau. Dies ist das Wesen jeder Gemeinschaft, die sich eine gelingende Zukunft vornimmt bzw. schon aus der Not des evolutionären Selbsterhalts vornehmen muss.

Der erste Satz der hier formulierten Position unter dem Titel Reanimationspolitik war Kritik ist so leicht. Es wäre tatsächlich leicht, die Position der instruktiven Schuldzuweisung an jene zu richten, die in der jeweiligen politischen Verantwortung stehen. Trotzdem soll und muss auch das erfolgen.

Ich denke, wir können an vielen Stellen politischer Aktivitäten verfolgen, wie die Dimensionen und Dynamik der Entwicklungen die Regelbarkeit durch die gewachsenen politischen Institutionen behindert oder gar unmöglich macht.

Die überforderten Akteure, wenn wir eine wohlwollende Perspektive einnehmen, agieren weitgehend als Bewohner eines Systems und der Winkel der eigenen Wahrnehmung wird, je länger diese Bewohnerschaft dauert, immer spitzer und damit enger.

Die Fähigkeit zu einer grundsätzlichen Veränderung bzw. dem Verlassen der eigenen Position reduziert sich reziprok zur Dauer, welche mit der Verteidigung dieser Position verbracht wurde.

Die Kommunikation ist geprägt von einer instruktiven, teilweise restriktiven Haltung. Konstruktive Dialogräume werden kaum oder gar nicht gebildet. Die Verfassung der eigenen Verteidigung scheint noch vor der Verlautbarung derer, die zu einem sprechen, abgeschlossen.

Das komplette Gebilde menschlichen Zusammenleben wirkt zunehmend ökonomisch domestiziert, eine Art der Einhegung bestimmter sozialer Normative unter das Primat der Wirtschaft.
Viele Menschen scheinen sich nicht mehr als Bürger:innen, sondern vielmehr als Kund:innen eines nur noch diffus wahrgenommenen Staatsgebildes zu verstehen.

Die Distanz der vorherrschenden Medien verführen dazu, einen kommunikativen Schützengraben zu nutzen, der eine menschliche Auseinandersetzung von Nähe, dem Mut zu Nahbarkeit und damit auch dem Mut zum Scheitern nur noch sehr ungern eingeht.

Die global agierenden ökonomischen Gebilde entwickeln eine Grösse, die in Bezug auf ihre systemische Wirkmächtigkeit von einem einzelnen Gehirn nicht mehr oder nur noch in Ausschnitten erfasst werden können. Damit entwickelt sich eine Verschiebung der Macht hin zur schieren Mathematik bzw. der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Jenseits menschlicher Intuition für das Richtige und damit auch das Gerechte.

Vor diesen Hintergründen wird Abwarten und die Hoffnung auf eine positive Wendung zur Strategie, die nur noch im Ernstfall verlassen wird. Erst dann, wenn die Dinge tatsächlich in Sichtweite und unmittelbar zu einem direkten Problem für die eigene Existenz zu werden drohen, werden Massnahmen ergriffen.
Und auch hier gibt es Gründe zum Zweifeln.

Solange die breite globale Basis noch den Preis bezahlt, der mit dem Abwarten eine Form der Allianz zu bilden scheint, wird die Gerätemedizin, um im Bild zum Begriff der Reanimation zu bleiben, ihre Möglichkeiten weiter ausschöpfen, um sich Zeit zu verschaffen.

Aber solange die unabhängigen Instanzen der Presse und des Journalismus sich nicht befreit von der unheilvollen Konvergenz einer reibungsscheuen Perspektive und wirkliche Divergenz – sei es nur aus Neugier – zulässt, verdichtet sich die öffentliche Meinung einer Gemeinschaft (welcher Grössenordnung auch immer) auf einen eher kleinen gemeinsamen Nenner.

Ja, ich weiss, all das klingt nicht hoffnungsvoll. Doch es scheint, auch hier in der Bildsprache der Medizin, dass erst dann die Bereitschaft zur Veränderung entsteht, wenn der Schmerz überhaupt sein darf, wenn dieser wahrgenommen wird und nicht schon so weit im Vorfeld verhindert werden soll, dass die Fähigkeit zur Realisierung der eigentlichen Krankheit nur noch über ein externalisiertes System möglich scheint.

Am Ende ist Politik keine externalisierbare Funktion, kein Organ in einer staatlichen Gemeinschaft, keine Direktive in einem Regelwerk oder ein wähl- bzw. abwählbares Gremium. Es ist schon gar keine Lösung in einer einzigen politischen Richtung in der Form einer Partei zu erwarten. Vielmehr suchen Probleme immer die Diversität einer Lösung.

Diversität ist davon gekennzeichnet, dass nicht nur das eine, das Richtige, sondern die Unterschiedlichkeit zu einer Entscheidung führt, zu einer Entscheidung führen muss, da man das Ganze gesehen hat und nicht nur einen Teil an einem Ort, den man schon lange kannte.

Der kurze Eingangssatz Kritik ist so leicht sollte die Erwartung, die mit dem provokativen Titel scheinbar verbunden war, gleich zu Beginn ein wenig aus der Spur bringen.
Es wirkt oft so, als wäre die allgemeine Öffentlichkeit davon getrieben, den [instruktiven] Blick immer auf der anderen Seite zu suchen.

Es scheint, als würde die Bereitschaft zur Veränderung einer Position zunehmend zu einem knappen [sozialen] Gut werden, eher zu dem seltenen Ereignis.

Damit meine ich die Fähigkeit zur Empathie, zum Zuhören und das Gehörte wirken lassen. Und schliesslich das konsequente Handeln, was immer – im Sinne des Wortes – jene Konsequenz meint, die mit einer Entscheidung verbunden ist.

Das Leben muss eben ohne die Funktion des Undo auskommen. Keine Gesellschaft und keine einzelne Person einer Gesellschaft sollte ihre Existenz zulasten anderer leben. Gleichzeitig muss klar sein, dass Politik zwar institutionell, doch nicht intentionell externalisierbar ist.

Wenn Gesellschaften glauben, Konsequenzen wären kein Teil dessen, wie man die eigene Zukunft gestaltet, dann werden diese Gesellschaften in allem verlieren. Vor allem in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit gegenüber denen, die noch länger leben werden als jene, die aktuell die zentralen Entscheidungen treffen können.

Wenn man das eigene Leben, die eigene Existenz, egal in welcher Position, in einem systemischen, vor allem einem sozialen Zusammenhang versteht, dann ergeben sich vielleicht andere Fragen. Fragen, die manche als wie aus einer vergangenen Zeit wahrnehmen mögen, als naiv und romantisierend. Wie auch immer.

Vielleicht beginnt die Lösung an dem Punkt, an dem man das wählt (zum Beispiel bei einer Wahl in einer Demokratie), was möglichst für alle gut ist und nicht nur den eigenen Interessen folgt.

Ja sicher, das klingt moralisch. Doch am Ende löst sich alles auf in der Frage nach der richtigen Moral.


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 1990 – 2021

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