INNOVATION_2 [bedingungen]

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Jede Innovation braucht Rahmenbedingungen für den Erfolg. Manchmal genügt der richtige Zeitpunkt. Manchmal hilft nur Geld. Warum eigentlich?

Wir betrachten Innovationen vor allem mit der Perspektive der konkreten Praktikabilität bzw. dem Faktor der gesellschaftlichen Durchdringung und damit dem Erfolg dessen, was wir als Innovation wahrnehmen und damit so bezeichnen. Oft genug sind wir dabei Opfer kommerzieller und kommunikativer Filter. Unsere alltägliche Aufmerksamkeit wird in eine Richtung gefiltert, sodass wir glauben, etwas wäre eine Innovation, eine echte Erfindung und damit ein Ding, das Begehrlichkeiten wecken muss, weil es so ist, wie es ist. Ein Ding des Begehrens.

Aus meiner Perspektive ist eine echte Innovation ihrem Wesen nach vor allem davon gekennzeichnet, eine Wirkmächtigkeit zu entfalten, die nicht nur das direkte Umfeld, sondern radial weit darüber hinaus zu einer gesellschaftlichen, einer strukturellen und technologischen Veränderung führt.

Ich spreche an anderer Stelle von Kausalradien und meine damit den komplexen Bezugsraum zwischen Ursache und Wirkung als einen polydirektionalen Vorgang, der nie als finales Fixum, sondern immer nur als Übergang zu einem neuen, einem weiteren Ergebnis verstanden werden kann. Und so betrachtet sprechen wir immer von einem Zwischenergebnis.

Dieser Gedanke zu dem Begriff Kausalradien passt auch hier, wenn wir uns mit dem Thema Innovation beschäftigen. Eine echte und damit grundsätzliche Innovation muss immer ein prägnantes [positives] Delta gesellschaftlicher Akzeptanz schaffen, damit der Erfolg zwingend ist bzw. zwingend wird. Es muss im Kern ein Nukleus bestimmbar sein, der eine Behinderung der darauf aufbauenden (grundsätzlichen) Veränderung nahezu ausschliesst.
Von dieser Art einer Innovation gibt es jedoch relativ wenige.

Im Jahr 1883 hat Gottlieb Daimler, 18341900, sein Patent für einen Gasmotor mit Glührohrzündung und damit der Möglichkeit, die Geschwindigkeit regulieren zu können, angemeldet. Das war nicht der erste Motor generell, auch nicht der erste Motor, der in seiner Kraftübertragung variabel war; es war der erste Motor dieser Art, der mit dem Vorsatz für eine neue Funktion, dem Transport von Menschen und Dingen in Relation zu den jeweiligen Bedingungen entwickelt wurde.

Das vorab sogenannte positive Delta lag im Kern dieser Idee als Produkt und weniger an der technischen Lösung selbst bzw. der Produktion derselben. Es waren die diffundierenden, die disseminierenden und die disruptiven Wirkungen, welche von dieser Innovation ausgingen. Es waren die Entwicklungen in den folgenden wenigen Jahrzehnten, die zu eruptiven Veränderungen führten und welche das systemische Geflecht aus Industrie, Logistik, Transport und vor allem der Mobilität veränderte.

Der Begriff der Diffusion bedeutet ausgiessen, verstreuen oder ausbreiten. In der Physik meint der Begriff, dass ohne weitere Einwirkung ein Prozess der Durchmischung beginnt, weil die [Umfeld] Bedingungen dies erlauben. Dabei spielt die Entropie eine Rolle, da in dieser Phase eine Art Unordnung entsteht.
Es geht bei der Diffusion nicht um die Logik und Sinnfälligkeit dessen, was passiert, sondern darum, einen möglichst stabilen Zustand der gegenseitigen Durchdringung zu erreichen. Egal wie. Man könnte daher sagen, dass Diffusion (wenn wir diesen für den Begriff Innovation anwenden) in vielen Fällen wenig effektiv, schon gar nicht effizient sein kann.

Der Begriff Dissemination wird üblicherweise in der Medizin für die Ausbreitung eines zentralen Krankheitsherdes verwendet. Er bedeutet etymologisch aber einfach nur Ausbreitung. Es gibt einen Ursprung, ähnlich einer Quelle, einem Startpunkt, welcher einen Prozess auslöst, der sich kaum (oder nicht mehr) stoppen lässt.
Wichtig dabei ist der Faktor des einen Prozess auslösenden Ursprungs. Damit die Ausbreitung in der Folge erfolgreich verlaufen kann, müssen die Rahmenbedingungen der Auslösung derselben ideal sein.

Disruption wiederum bedeutet etymologisch Störung, Unterbrechung oder Erschütterung. Alle drei Wortbedeutungen passen zu dem, was eine echte Innovation als Wirkung entfaltet. Sie stört das gewohnte Normativ dessen, was eine Gesellschaft bis dahin akzeptierte. Sie unterbricht damit die damit verbundenen Gewohnheiten. Und sie erschüttert in radialen Wellen das komplette Umfeld dessen, was bis zu dem Zeitpunkt der Standard war.
In der wortgewaltigen Interpretation (zum Beispiel in dem Buch Zero to One von Peter Thiel, einer der PaypalGründer und Investor) erhält der Begriff eine unnötig kriegerische Note. Letztlich ist jeder Umbruch mit dem Verlust bzw. dem Zurücklassen des Alten verbunden (auch ohne dramatische Ausschmückung des Vorgangs selbst).

Die Radikalität der Veränderungen führte bei dem Beispiel von Gottlieb Daimler zu massiven Verwerfungen und Zerstörungen der bis dahin etablierten Systeme. Die neue Produktinnovation löste die alten Systeme in ihrem Zusammenspiel (soziale und ökonomische Systemik) in wenigen Jahren komplett auf.
Pferdekutschen machten schlicht nach einer gewissen Zeit keinen Sinn mehr. Schlimmer, sie störten die Entwicklung der neuen Produkte und mussten in der Folge verschwinden.

Die Dynamik der Entwicklung wäre aber ohne die gesellschaftliche Bereitschaft dafür und damit meine ich die fundamentale Akzeptanz dieser neuen Produkt- und Servicekategorie gegenüber nicht realisierbar gewesen. Es ist die schon an anderer Stelle beschriebene intrinsische Wirkung kollektiver und damit kognitiver Veränderungsprozesse, die ihre Wirkmächtigkeit für den Erfolg entfalten müssen.

Die Einführung des Automobils war nur das zentrale Element, der Trigger, der eine systemische Wechselwirkung [Reziprozität] und Dynamik entfacht hat, die ab einem gewissen Punkt unumkehrbar wurde. Genau dieser Point of no Return (Umkehrgrenzpunkt) ist ein entscheidendes Merkmal von Innovationen, welche diesen Namen auch verdienen.

Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Diese Aussage von Bernhard von Chartres aus dem 11. Jahrhundert ist eine Position und Perspektive zum Thema. Jede Veränderung ist immer Teil eines grösseren Kontextes bzw. den jeweiligen Einflussfaktoren der Zeit, in der eine Idee sich formt, um ein Problem zu lösen.

Nun sind wir mit dieser Aussage an einem relevanten Punkt, welcher die Frage nach dem Problem gleichsam mit der Frage nach der Relevanz eines Problems verbindet. In unserer Zeit grenzenloser ökonomischer Wachstumsideologie verbietet sind überwiegend die Frage nach der Sinnfälligkeit einer Innovation, solange sie das Kriterium eines ökonomischen Erfolgs erreichbar macht bzw. garantiert. Baruch de Spinoza, niederländischer Philosoph, sagte im 17. Jahrhundert [2]:

Nicht weil eine Sache gut ist, begehren wir sie. Sondern weil wir sie begehren erscheint sie uns gut.

Baruch de Spinoza

Er stellt damit der Leserin und dem Leser eine sprachliche und etymologische Falle. Die Frage nach dem Begehren ist nur sehr ungenau bestimmbar. Was soll das sein? In einem Text mit dem Titel Freier Wille unterscheide ich zwischen Begehren und Begierde. In meiner Definition ist Begehren etymologisch betrachtet eine der Tat vorgestellte Phase der Vorstellung, der Fantasie über eine gewünschte Realität, eine Form der Emotion, die [noch] nicht Erfüllung gefunden hat.

Die Begierde beschreibe ich dort als einen Zustand, welcher in der Tendenz vor allem oft als körperliche, als aktivierende Stimulanz wahrgenommen wird, wenn auch noch nicht als der Antrieb, der tatsächlich zu einer Umsetzung führen muss. Es ist klar, der Übergang von dem Begehren zur Begierde ist ein sanfter, ein fliessender Prozess. Man könnte auch sagen, das Begehren ist die grosse, die etwas reifere Schwester der Begierde.

Wir fragen also nach den Beweggründen für die Integration einer Neuerung und damit einer Innovation in Bezug auf den persönlichen Entscheidungsraum (und damit auch dem freien Willen, der letztlich zu einer Handlung führt).
Man könnte das Zitat von Baruch de Spinoza auch als Variation im Zusammenspiel der Überschrift zu diesem Text umformulieren und in einem Leitsatz behaupten:

Nicht weil etwas neu ist, ist es gut.
Sondern es ist gut, weil es neu ist.

Bei dieser Variante zu Spinozas Zitat bleibt das Individuum aussen vor. Ich frage einfach grundsätzlich nach dem Zusammenspiel zwischen einer Neuerung und dem Wert derselben.
Mir ist schon klar, der auf der Grundlage des Satzes von Spinoza umgeformte Satz beschreibt ein relativ schlichtes Paradoxon. Beide Sätze vermitteln auf den ersten Blick das Gleiche, es ist aber nicht dasselbe, da der zweite Satz eine zwingende Abhängigkeit von dem Neuen proklamiert, während der erste Satz die Einschätzung für das Gute offenlässt.

Wie oben schon angemerkt, leben wir mit einer progressiven Dynamik seit dem 16., vor allem aber dem 17. Jahrhundert [2] in einer weitgehend kritikbefreiten gesellschaftlichen Überzeugung der Garantie zu sozialer Sicherheit, zu Wohlstand und dem generellen Allgemeinwohl durch die Produktivkräfte der Wirtschaft. Wobei es sicher eine geschichtliche Realität ist, dass der Prozess selbst sehr langsam diese Wirkung entfaltete und erst in den vergangenen einhundert Jahren zunehmend und damit exponentiell zu unserer gegenwärtigen Realität führte.

Genauso wie Martin Luther, 14831546, in seiner Zeit und als einer der Impulsgeber zur Reformation die Bauernbewegung als Teil der Befreiung im Kern abgelehnt hat und seine reformatorischen Ideen vor allem weiter den Obrigkeiten vorbehalten sah (und damit auch für sich selbst), so war auch Karl Marx der festen Überzeugung, dass das Wohl des Arbeiters besonders durch den massiven Ausbau industrieller Produktion und ihres permanenten Outputs in Form von immer neuen Produkten erzielbar wäre.
Damit wurden soziale Grundüberzeugungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit mehr oder weniger mit dem Diktat des ökonomischen Wachstums verschmolzen. Erst die aktuellen Entwicklungen globaler Herausforderungen wie die inzwischen nicht mehr zu verleugnende Klimakatastrophe führen in kleinen Schritten zu einer anderen Perspektive auf den ökonomischen Faktor.

Aber wie gesagt, während der vergangenen ca. 200 Jahren haben sich die dominierenden globalen Gesellschaften in der Logik des permanenten wirtschaftliche Aufschwungs entwickelt. Vor allem auf der Grundlage der Potenziale neuer, produktiver und reproduktiver Innovationen und den damit verbundenen Technologien.
Dabei muss man noch einen weiteren Aspekt berücksichtigen, ohne den jede massgebliche Innovation (zumindest weitgehend) vermutlich nicht denkbar wäre. Dabei meine ich das Kapital und damit die finanziellen Mittel, ohne diese eine Entwicklung in Relation zu dem damit verbundenen Aufwand nicht möglich wäre.

Die strukturelle und ideologische Verwobenheit der Finanzwirtschaft mit der realen Wirtschaft ist der Hebel für jede Innovation neueren Datums (der vergangenen 100 bis 200 Jahre). Und damit meine ich ausdrücklich nicht die Entwicklung einer neuen Idee, einer Innovation.
Aber jede Durchdringung in einer Gesellschaft benötigt die Mittel für das produktive Umfeld, die Implementierung, die Kommunikation der Sache selbst und nicht zuletzt die Korrekturen, die in diesem Prozess nötig sind.

Und damit kommen wir zum Kern öffentlicher bzw. privatwirtschaftlicher Finanzwirtschaft, den Schulden. Unser wirtschaftliches System basiert in seiner Logik auf der permanenten Akkumulation von Schulden.

In einfachen Worten: Jede Investition ist seit der Akzeptanz von Geld als Tauschmittel (seit ca. 2.500 Jahren) davon gekennzeichnet, dass damit auf der einen Seite ein spekulativer Wert gehandelt wird und auf der anderen Seite eine Schuld verbunden sein muss, da sonst das ökonomische System des Finanzwesens nicht funktioniert. Diese Schuld basiert entweder auf der dafür eingebrachten Arbeit (als Tauschmittel für das Geld), welche immer neu geleistet werden muss um die Investition zu amortisieren (als permanente Tilgung eines Derivats – dazu später mehr), oder die Schuld wird, wofür mehr Mut und Überzeugung notwendig ist, langfristig gegenüber dem Gläubiger eingegangen. Dabei akzeptiert der Schuldner immer die damit verbunden Zinsen für seine Schuld (dem Darlehen), in der Hoffnung, dass sich die Investition lohnen würde und den damit verbundenen Mehrwert [2] generiert.
In welche Form dieser Mehrwert auch wahrgenommen wird.

In einem einfachen Beispiel könnte man sagen (als eine Art Parabel zum Thema): Würden alle Menschen, also global und exakt in diesem Augenblick, sich bei der Finanzindustrie über Schulden finanzielle Mittel verschaffen (das würde diese natürlich nicht akzeptieren) und dieses Geld in Wälder oder Wiesen investieren (wobei es sicher nicht so viele Flächen gäbe), die sie in der Folge in keiner Weise bewirtschaften, ausbeuten bzw. wertsteigernd nutzen, dann würde unser globales ökonomisches System vermutlich in kurzer Zeit kollabieren.
In anderen Worten: Die Idee der Ökonomie basiert ihre Wesen nach auf der permanenten Akkumulation von Schulden, da jede Schuld normalerweise zu einem Investment wird bzw. werden muss und damit zu jenem Treibstoff, ohne den die Wirtschaft und damit auch unser aktuelles soziales System nicht funktioniert.

Wie aber entsteht das Geld, das man im Zusammenspiel eines Darlehens (üblicherweise bei einer Bank in Form einer damit verbundenen Schuld früher durch einen Schuldschein zur Sicherheit des Darlehensgebers zertifiziert) für eine Investition aufnimmt?

Letztlich ist es nicht so, dass eine Bank dieses Geld für den Schuldner vorhält, also, in welcher Weise auch immer besitzt. Zumindest bei Weitem nicht in der Höhe, wie die Bank mit Schulden handelt. Die Bank generiert, nachdem sie sich über die Sicherheiten informiert hat, welche der Schuldner bzw. die Schuldnerin vorzubringen hat (für den Fall der ausfallenden Rückzahlung des Darlehens in vorher festgelegten Raten) im System des Bankwesens, insbesondere im Zusammenspiel der öffentlichen, nationalen bzw. supranationalen Notenbanken, das Geld in dem Augenblick, in dem der Schuldner akzeptiert wird.

Damit entsteht das notwendige positive Delta permanent wachsender Geldmengen, bei deren Fehlen die ökonomischen Prozesse nicht am Leben gehalten werden können. Jedem Angebot müssen zwingend sehr viel mehr finanziellen Potenziale gegenüberstehen, da sonst eine Art Unterdruck entsteht.
Üblicherweise streben Unternehmen nach einer Degression ihrer Kosten. Was ist das?
Die sogenannten Grenzkosten [2] (das ist der Wert für die Produktion eines Produktes, der geringer sein muss als der Ertrag, der mit diesem Produkt erzielt werden kann) liegen geringer als die durchschnittlichen Kosten (das sind die Kosten, die komplett für die Erstellung eines Produktes notwendig sind), da die Kosten für die Produktion unterhalb des sogenannten betrieblichen Optimums liegen und damit den höchsten Deckungsbeitrag erzielen.

Das klingt kompliziert und vermutlich soll es auch kompliziert sein. Das ist einfach der aktuell maximal erzielbare Betrag, der nach allen Kosten, die man selbst hatte, und nach dem Verkauf dessen, was man damit erschaffen hat, übrig bleibt. Im Prinzip ganz einfach, ähnlich einem privaten Kassenbuch im Laufe des Monats.

Wenn also niemand mehr da ist, der bereit ist, in ein gewisses Angebot (eines Produktes oder einer Dienstleistung) mit vorhandenem oder geliehenen Geld zu investieren, dann wird das betriebliche Optimum negativ, das Unternehmen verdient kein Geld und muss irgendwann in dem Markt aufgeben, in welchem es aktiv ist.
Mir ist die Banalität dieser Feststellung bewusst. Wenn Produkte nicht mehr verkauft werden, kann ein Unternehmen nicht wirtschaftlich (Gewinne akkumulieren) arbeiten. Das Unternehmen arbeitet regressiv, also rückläufig. Soweit klar.

Karl Marx hat das aus der damaligen sozialen Perspektive als den Unterschied gesellschaftlicher Gruppen beschrieben. Die Arbeiterinnen und Arbeiter leisten einen Wert, der zu einem geringeren Wert der Gesellschaft als Ganzes zugutekommt (im Sinne des Kapitalismus zugutekommen darf).
Den von ihm sogenannte Mehrwert erhalten jene, die auch jenen Teil der Gesellschaft besitzen (zum Beispiel die produktiven Anlagen und Mittel), welcher den Erwerb von Geld über Arbeit anbietet. Der Aufwand der geleisteten Arbeit wird von ihm als Tauschwert bezeichnet. Das Ergebnis dieser Leistung bezeichnet Karl Marx als Gebrauchswert. Das [positive] Delta wird zum Ertrag und damit zur Rendite für den Produzenten.

Was hat das mit Innovationen zu tun?

Kurz gesagt, hat sich die Innovation als relevante Neuerung im Zusammenhang der Entwicklung ökonomischer Prinzipien und damit als Ansatz permanenten Wachstums im Lauf der vergangenen Jahrhunderte von ihrer Notwendigkeit entkoppelt.

Es gibt viele Beispiele für relevante Veränderungen, die in der jeweiligen Zeit für die soziale Realität und Situation absolut notwendig waren, diese oft zwingend angenommen wurden und damit erfolgreich sein mussten. In Zeiten von Krisen, zum Beispiel nach einem Krieg, sind dies Angebote, welche das pure Überleben sichern.
In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, zum Beispiel durch äussere Faktoren wie der aktuell immer stärker wahrnehmbaren Klimakatastrophe, sprechen wir von Angeboten, welche zunehmend von einer grösseren gesellschaftlichen Gruppe akzeptiert werden und diese damit Investitionen in neue Produkte tätigen (beispielsweise in Elektromobilität, in Photovoltaikanlagen, in LED-Beleuchtung u.v.a.).

Es kann aber auch zu einer Verweigerung von Investitionen durch Umnutzung bestehender Optionen bzw. die komplette Aufgabe eines bis dahin bestehenden Normatives gesellschaftlicher Handlung führen.

John Kimberly hat 1981 dafür den Begriff der Exnovation [2] geprägt. Er meinte damit nicht die Abschaffung bzw. Verdrängung von etwas Altem durch etwas Neues, wie dies gerne im Zusammenhang disruptiver Märkte gemeint ist (insbesondere durch digitale Lösungen). Es geht dabei vielmehr durch die Abschaffung des Neuen und damit wenigstens in Teilen auch die Abschaffung der damit verbundenen Gewohnheiten und Handlungen.
Und das ist vollkommen neu und ungewohnt.

Getrieben wird dieser potenzielle Wandel zu regressiver Produktion und damit der Investition in neue Produkte durch ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass global verfügbare Ressourcen begrenzt sind und nur in dem Umfang zum Einsatz kommen sollten, wie diese auch auf diesem Planeten erneuert werden können. Dieser sogenannte Earth Overshoot Day [2] [3] war im Jahr 2020 am 22. August. Das bedeutet, ab diesem Datum nutzt die globale Gemeinschaft mehr Ressourcen, als sie für ein Jahr verfügbar hätte. Anders gesagt entsteht damit eine Schuld für die Zukunft, welche sich ständig erhöht.

Aus soziologischer Perspektive kann man beobachten und damit vielleicht auch erwarten, dass Menschen immer weniger bereit sind, ihr Leben in finanzieller Abhängigkeit zu verbringen, auch getrieben durch ein wachsendes Bewusstsein, dass es für die Veränderung moralische und damit ethische Gründe gibt.

Aus der Perspektive des globalen Finanzwesens ergibt sich jedoch ein radikal anderes Bild. Nimmt man die globalen Vermögen auf allen Ebenen zusammen, dann ergibt sich im Jahr 2021 (nach aktuellen Schätzungen) ein verfügbares Vermögen von ca. 90 Billionen US-Dollar (ca. 2/3 in Form von Aktien [2] u.ä., 1/3 in Form von realem Geld bzw. Gold).

Die globalen Schulden sind ca. viermal so hoch und liegen bei ca. 300 Billionen US-Dollar. Es gibt allerdings noch eine weitere Kategorie sogenannte Finanzinstrumente, die global gehandelt werden, das sind Derivate. Ein Derivat ist im Prinzip eine Abmachung zwischen zwei Parteien, dass für ein Produkt oder eine Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt ein vorab vereinbarter Preis gezahlt wird. Man nennt das auch Termingeschäfte.
Solche Geschäfte gibt es seit mehr als 4.000 Jahren und schon Aristoteles beschreibt in seinem Werk Politik um 330 v. Chr. eine Marktmanipulation unter Verwendung von Derivaten auf die Kapazitäten von Olivenölpressen (Wikipedia).

Einfach beschrieben: Mona ist davon überzeugt, dass der Preis für einen Apfel im nächsten Frühjahr steigt (wichtig für diese Spekulation sind ihre Gründe). Max glaubt, dass Äpfel dann billiger werden. Mona kauft nun von Max das Recht, im April des kommenden Jahres einen Apfel zum Preis von 50 Cent kaufen zu können, auch wenn der Preis dann 60 Cent sein sollte. Dafür zahlt Mona an Max eine Prämie. Diese Prämie kann Max behalten, auch wenn Mona die Möglichkeit nicht nutzen sollte, einen Apfel zu dem vereinbarten Preis von 50 Cent zu kaufen.

Weltweit werden heute Derivate im Wert zwischen 600 Billionen bis 1,2 Billiarden US-Dollar gehandelt, genauere Zahlen liegen nicht vor, da die damit handelnden Unternehmen und Institute diese Zahlen nicht zwingend veröffentlichen müssen. Würde man das verfügbare Vermögen (nur Geldmittel, keine Aktien oder andere Werte) zusammen nehmen, dann ist der Wert der Derivate also mindestens zwanzigmal höher als das konkrete Vermögen (was auch immer man mit konkret dann meint).
Warum mache ich all diese Rechnungen bzw. welchen Sinn macht diese Betrachtung im Zusammenhang mit dem Thema Innovation?

Innovationen sind immer Teil des jeweiligen ökonomischen Umfelds und damit Teil der Potenziale, die seit einigen Jahrhunderten, aber in jedem Fall heute in finanziellen (abstrakten) Dimensionen gemessen werden. Jede Innovation entwickelt sich daher immer im Spannungsfeld zwischen den Faktoren Zeit (der richtige Augenblick?), Bedarf (wird das Neue benötigt und damit akzeptiert?) und Relevanz (passt das Neue in den Korridor erkennbarer Deutung für die Zukunft und den damit verbundenen Veränderungen).

Weiter zu dem Thema Innovation im nächsten Teil [2]. Schliessen will ich hier mit einer weiteren Abwandlung des Leitsatzes (angelehnt an das Zitat von Baruch de Spinoza, 16321677), der auch ein guter Startpunkt für die weiteren Betrachtungen darstellt:

Nicht weil etwas neu ist, ist es gut.
Sondern es ist gut, weil es neu ist.

Für alle, die gerne weiterlesen: INNOVATION_3 [anthropologie]

Vorangegangener Text: INNOVATION_1 [vorbilder]


Wer doch lieber auf Papier lesen möchte, findet hier das PDF.


© Carl Frech, 2021

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